Unbefleckt
von Daniel Wehnhardt
Zehn Minuten, sagt die Stimme aus dem Lautsprecher.
Ich sitze am Bahnsteig und beobachte die Menschen. Manche von ihnen sind in dicke Wintermäntel gepackt, ihre Gesichter abgetaucht hinter hochgezogenen Kragen. Andere stehen in dem gelb markierten Raucherbereich, als ob sie Aussätzige wären. Wenn sie an ihren Glimmstängeln ziehen, brennt die Glut ein kurzes, schwaches Licht in das Tagesgrau.
Genau wie sie warte auch ich auf den Zug. Im Gegensatz zu ihnen weiß ich jedoch nicht, wohin er uns bringen wird, und möchte es auch gar nicht wissen. Ich hoffe nur, dass ich weit genug weg komme von der Stadt, aus der ich die Flucht ergreife, weil sie zu einem Museum meiner Erinnerungen geworden ist.
Denn eine freie Bewegung in den Straßen der Stadt ist mir schon lange nicht mehr möglich. Hier das Restaurant, in dem ich damals mit Emilia gewesen bin, dort die Bank, auf der Dorothee und ich selbstgedrehte Zigaretten geraucht haben, die wie Joints aussahen, oder der Wohnheimflur, in dem Eszter und ich zu „New York, New York“ getanzt haben.
Diese Erlebnisse haben sich in mir gesammelt. Jetzt, mit Anfang dreißig, trägt fast jeder Ort irgendeinen Flecken der Vergangenheit. Immer enger spannt sich das Netz der Erinnerungen, und so spaziere ich manchmal stundenlang durch die Stadt, auf der Suche nach dieser heilsamen Erfahrung des Unbekannten. Selten genug gelingt es mir ihn zu spüren, diesen Zauber des Neuen, der jedoch immer nur von kurzer Dauer ist, da hinter der nächsten Ecke meistens schon wieder die Vergangenheit wartet.
Dann fährt endlich der Zug ein. Mit quietschenden Rädern kommt er zum Stehen, und nach und nach steigen Menschen aus und ein. Als Letzter betrete ich den Zug. Hinter mir schließen sich die Türen, und nun erwächst unter meinen Füßen ein rhythmisches Rattern. Eine Zeit lang schaue ich zu, wie die Bäume, auf die ich aus dem Fenster sehe, vor meinen Augen zu einer Wand verschmelzen. Erst, als der Trubel sich etwas legt, begebe ich mich auf die Suche nach einem Platz.
Doch die gestaltet sich schwierig. Eigentlich wünsche ich mir ein bisschen Einsamkeit, möchte in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Doch alle Abteile sind besetzt, und so bleibt mir nur der einzige freie Sitz an einem Vierertisch im Großraumwagen.
Kaum habe ich Platz genommen, steigt plötzlich ein süßlich-femininer Duft in meine Nase. Es muss das Parfum meiner Sitznachbarin sein, einer sportlich-adretten Mittvierzigerin, die in einem Roman von Ildikó von Kürthy liest.
Genauso hatte es immer in Emilias Bad gerochen, wenn sie sich zum Ausgehen fertig machte. Der Duft, der sie umgab wie eine Aura, und den ich zum ersten Mal roch, als wir uns in einem Café trafen. Obwohl wir uns erst ein einziges Mal gesehen hatten, existierte zwischen uns eine ungeheure Kraft, die uns zueinander zog und der sich zu widersetzen sinnlos war. In dem Café redeten wir über dies und das, über alles und nichts, und bei all dem waren es vor allem unsere Augen, die miteinander sprachen.
Plötzlich steht die Frau auf und geht hinüber in den nächsten Wagen. Es kommt mir vor, als würde sie nicht nur ihren Duft, sondern auch meine Erinnerungen mitnehmen. Als würden sie im Grunde gar nicht mir gehören, sondern vielmehr für immer an dieses Parfum gebunden sein.
Dann schaue ich wieder eine Zeit lang aus dem Fenster. Während die Landschaft an uns vorüber rauscht, finden meine Augen keinen Halt, huschen hin und her. Bei all dem versuche ich, nichts zu erkennen. Keine Häuser, keine Menschen, kein nichts. Wenn Durchsagen kommen, presse ich die Hände auf meine Ohren, denn ich will nicht wissen, was das Ziel unserer Fahrt ist, wohin meine Flucht mich führt.
Ein paar Stunden später kommen wir an. Genauer kann ich nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist. Der Versuch, bloß nichts zu erkennen von der Welt hinter dem Fensterglas, hat mein Zeitgefühl außer Kraft gesetzt. Doch jetzt, als der Zug unter das Bahnhofsdach schleicht und die anderen mit ihren Koffern zu den Türen drängen, wage ich einen verstohlenen Blick nach draußen.
Was für ein Glück! Ich erkenne nichts. Kein Haus, keine Straße und kein Mensch kommen mir bekannt vor. Auch den Namen der Stadt, der auf einem Schild steht, lese ich zum ersten Mal.
Voller Hoffnung steige ich also aus und nehme auf einer Holzbank Platz. Sehe zu, wie die Menschen zu den Treppen schwärmen und der Trubel um mich herum verebbt. In der Stille kann ich die Bahnhofsuhr, die über meinem Kopf hängt, lautstark ticken hören.
Aber irgendwie habe ich mir das alles anders vorgestellt. Dieses Gefühl, an einem fremden Ort zu sein, umgeben von Erfahrungen, die nur darauf warten, erlebt zu werden. Freiheit habe ich mir erhofft, das Sprengen der Vergangenheitsfesseln. Doch jetzt fühlt es sich an, als würde ich in dem Neuen ertrinken. Wie ein Nichtschwimmer, den man vom Drei-Meter-Turm stößt und dann sich selbst überlässt.
Plötzlich setzt sich ein Mann neben mich auf die Bank. Es fällt mir schwer, sein Alter zu schätzen, und so lege ich mich einfach auf irgendetwas um die Vierzig fest. Sofort kriecht mir sein Geruch, ein Potpourri aus Kot, Schweiß und Urin, in die Nase. Unter einer abgewetzten Kappe lugen lange, filzige Haare hervor, und zu dem dichten, farblosen Bart, der aussieht wie ausgewaschen, trägt er ein Tuch um seinen Kopf, das ihm den Hauch eines Ninja verleiht. Sein T-Shirt und seine Hose sehen aus wie ein Sieb, als hätte er darin die Salve eines Maschinengewehrs überlebt.
„Willste ne Fluppe?“, fragt der Mann mit bärentiefer Stimme.
Ich nicke, und als er schließlich ein Etui aus seiner Tasche fingert, sehe ich, dass auch der Mann sich gerne Jointzigaretten dreht.
So wie Dorothee, die es einfach nicht anders konnte oder vielleicht auch nicht anders wollte, das wusste man bei ihr nie so genau. Jeden Abend sind wir zu der Bank im Feld spaziert, haben geraucht, Wein getrunken und versucht, die Welt und irgendwie auch das Leben zu verstehen. Gelungen ist uns das meistens nicht. Manchmal jedoch, buchstäblich mit dem letzten Tropfen Wein, habe ich sogar so etwas wie eine Erkenntnis gespürt.
„Wo kommst’n her?“, fragt der Mann und reicht mir sein Feuerzeug.
„Von da, wo es nur Erinnerungen gibt“, antworte ich.
Der Mann steckt sich eine Zigarette an, verschränkt die Arme und nimmt hin und wieder einen Zug, ohne seine Hände zu benutzen. Den Rauch bläst er zwischen seinen Lippen heraus, während die Asche auf seine Arme bröselt.
„Und jetzt, wo willste hin?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Dahin, wo es keine Erinnerungen gibt.“
„Hm-hm“, brummt der Mann. „Ist das weit von hier?“
„Glaub schon“, antworte ich.
Eine Zeit lang schauen wir schweigend auf die Gleise. Aus dem Augenwinkel bestaune ich die Technik des Mannes, dieses lässige, freihändige Rauchen, das er perfektioniert zu haben scheint. Als von seiner Zigarette nur noch der Filter übrig ist, greift er nach dem Stummel und schnippt ihn auf die Schienen. Wieder brennt die Glut ein zartes Licht in das Tagesgrau, das nun schon mehr ein Abendgrau ist.
„Dann machste dich wohl besser mal los, was?“, sagt der Mann und legt zum Abschied eine Hand auf meine Schulter. Während er schließlich über den Bahnsteig streunt, schaue ich zu, wie die Glut seiner Zigarette in dem Schotter der Gleise erlischt, und mit ihr mein Glaube.
Die Hoffnung, ihn jemals zu finden.
Diesen reinen, unbefleckten Ort, wo immer er auch sein mag.
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