Vergebens

von Désirée Braun

Ich werde es schaffen!

Ich weiß nicht wie oft ich diesen Satz schon gedacht habe. Er ist das Einzige, woran ich mich noch festhalten kann. Das Einzige, das mich davor bewahrt, in den stürmischen Wellen zu versinken, die schon seit Stunden an mir reißen. Sie wollen nicht einsehen, dass ich nicht Teil von ihnen werden will. Dass es noch zu früh für mich ist, um in den letzten Schlaf gesungen zu werden. Ich bin dafür noch nicht bereit. Ich bin dafür noch zu jung. Ich werde nicht sterben!

Also kämpfe ich weiter. Schwimmen kann ich nicht. Ich kann nur darum kämpfen, Luft zu bekommen, während ich hoffe, dass die Wellen mich an Land spülen, bevor ich ihnen nachgeben muss. Alles, was ich sehe, ist blaugraues Wasser, gekrönt mit weißem Schaum. Es scheint mich auszulachen. Ich höre es glucksen.
Ich höre es flüstern: Gib auf. Dein Boot und deine Leute habe ich schon. Ich brauche nur noch dich.

Nein! Ich werde nicht aufgeben. Ich werde das Land erreichen! Ich will nicht in deinem gierigen Schlund verschwinden, wie all die anderen… Ich schluchze.
Gleich darauf habe ich den Mund voll salzigem Wasser. Ich huste. Eine Welle bricht über mir zusammen.
Lass dich von ihnen treiben, dann halten sie dich, höre ich die Stimme meiner Mutter.
Lass dich von ihnen treiben, darauf muss ich mich jetzt konzentrieren.
Nicht an die Toten denken, die zu dir aufsehen. Die zusehen wie du ertrinkst, sage ich mir.
Nur weiter leben…

Verärgert gurgelt das Wasser, als ich meine Arme ausbreite. Doch ich kann keine Angst mehr empfinden. Schon seit langem nicht mehr. Sie ist eingefroren. Auch ich friere ein. Stück für Stück, im eisigen Zorn des Meeres.
Ich schaffe es!
Auf und nieder wirbelt mich das Wasser. Es peitscht mir ins Gesicht. Drängend zieht es an mir.
Gib auf, flüstert es.
Nein! Ich werde nicht aufgeben. Ich kann nur hoffen, dass auch mein Körper nicht aufgeben wird. Ich kann keine Verbindung mehr zu ihm herstellen. Er ist zu taub. Und auch in meine Gedanken schleicht sich die Taubheit. Langsam, wie ein kriechendes Tier.
Und mit ihr kommt noch etwas anderes. Ein Vorwurf. Wieso bin ich mitgegangen? Warum habe ich mich auf dieses kleine Boot gequetscht? Ich weiß die Antwort, doch mit einem Mal erscheint sie mir unwichtig. Freiheit. So viel unwichtiger als das Leben.
Du hältst sie nur für unwichtig, weil du gleich sterben wirst, sagt eine gemeine Stimme in meinem Kopf.
Nein, ich werde nicht sterben. Ich schaffe das!
Ach ja? Flüstert die Stimme.
Wie lange willst du das noch durchhalten? Wäre es nicht bequemer gewesen erschossen zu werden? Ein kurzer Knall und dann wäre es vorbei gewesen.

Nein. Ich bin für die Freiheit geflohen. Und ich würde es immer wieder tun.
Die Wassermassen dröhnen donnernd in meinen Ohren. Auf und nieder wirbeln sie mich. Sie spielen mit mir. Warten und wetten, wie lange ich noch durchhalten werde.
Vor meinen Augen flimmert es. In meinem Kopf steigert sich der schreckliche Gesang der Wellen zu einem Crescendo. Ich kann nichts mehr sehen. Ich werde aufgeben müssen. Werde bei meiner Familie schlafen… Ich beginne zu sinken…
Ich schaffe das!

Mit einem Mal ist mir, als sähe ich sie vor mir. Wie Geister schweben sie über dem Wasser. Sie sehen mich an, alle vier.
Najya und Niam sehen ein wenig verwirrt aus. Als hätten sie noch nicht richtig begriffen, dass sie tot sind. Aber sie blicken mich voller Wärme an. Tauen meine Gedanken auf mit ihrer Liebe. Najya lächelt mir stolz zu, auch wenn ich die Sorge in ihrem Blick sehen kann.
Du bist so tapfer! Mach weiter!
Wie in einem Traum höre ich ihre Stimme durch meine Sinne wehen…
Nicht weinen, sagt Niam zu mir.
Du wirst das Land erreichen, versprich es mir!
Ich nicke ihm zu, meinem kleinen Bruder. Ich kann die Angst in seinem Blick nicht ertragen. Mein Vater tritt an seine Seite und legt ihm den Arm um die schmächtigen Schultern. Liebevoll sieht er auf mich hinab.
Wir werden auf dich warten, Kleines…

Wieder steigen mir Tränen in die Augen. Kleines, nie wieder werde ich ihn sprechen hören. Nie wieder.
Da spüre ich eine federleichte Hand auf meinem Kopf. Ich sehe auf, direkt in das weiche Gesicht meiner Mutter. Auch ihre Augen funkeln traurig.
Du bist stark, Liebes. Kämpfe weiter. Erreiche die Freiheit. Wir werden immer bei dir sein. Wir lieben dich.
Ich will mich an sie kuscheln, doch sie schüttelt bestimmt den Kopf.
Später Kind. Du musst jetzt gehen. Bitte…
Ich weiß, dass sie Recht hat. Dennoch zögere ich.
Geh Kleines, höre ich auch die Stimme meines Vaters.
Geh, rufen auch meine Geschwister.
Kämpfe unseren Kampf zu Ende…
Dann sind sie fort, und ich bin wieder alleine.

Mein Kopf stößt durch die Wasseroberfläche, und ich schnappe nach Luft. Ich kann wieder denken. Und ich denke nur an eines. Meine Familie. Kämpfe unseren Kampf zu ende, das war ihr letzter Wunsch. Ich werde ihn erfüllen.
Ich schaffe das !
Ich darf nicht aufgeben. Ich werde den Strand erreichen.
Meine Hände sind blau angelaufen. Ich sehe es, als ich die Arme wieder ausbreite. Wenn nicht bald Land in Sicht kommt, dann…
Nicht daran denken, sage ich mir.

Das Meer brüllt vor Vergnügen. Hierhin und dorthin wirft es mich. Immer lauter lacht es. Meine Verzweiflung wächst wieder. Sie hat die Kälte überwunden. Sie schnürt mir die Kehle zu, so dass ich noch schlechter Luft bekommen. Ich weiß, dass sie meinen Körper nicht erreichen darf. Dass dann alles vorbei ist. Verbissen halte ich die Augen offen und kämpfe gegen die Ohnmacht an.
Ich schaffe das!
Mein Herz beginnt zu flattern. Die Verzweiflung hat es erreicht. Nein! Ich werde das Land erreichen. Ich muss!
Eine Welle prallt mir an den Kopf und weiße Flecken tanzen an mir vorbei. Weiter Atmen!
Du hast es fast geschafft, sieh nach vorne!
Ich gehorche der Stimme meiner Mutter. Und da, ich sehe die Küste! Wie eine Schlange liegt sie vor mir im Wasser! Freude erfasst mich – und wird durch die Verzweiflung nieder geworfen.
So weit schaffe ich es nicht mehr. Niemals. Ich schluchze, es ist mir egal, dass ich dabei Wasser schlucke. Ich werde versagen. Alles war umsonst…
Mir wird schwarz vor Augen.

Mit einem Mal packt mich jemand am Arm. Ich reiße die Augen auf. Ein Mann hält mich fest. Doch ich kann mich nicht mehr dagegen wehren. Er ruft etwas, das ich nicht verstehe, und kurz darauf werden wir aus dem Wasser gezogen. Ich und der Mann, der mich festhält. Vielleicht ist das auch gut so, denn ich könnte nicht mehr stehen. Da sind noch mehr Männer. Verwundert blicke ich mich um. Erst da wird mir klar, dass ich auf einem Boot bin. Viel größer und leerer als das, von dem ich komme. Ein anderer Mann kommt auf mich zu und nimmt mich auf den Arm. Ich spüre, dass mein Körper aufgeben will, doch ich klammere mich an ihn…
Lasse ihn nicht gehen…

Ich zwinge mich dazu, nicht einzuschlafen. Starr blicke ich um mich. Der Mann, der mich trägt, schreit etwas durch den Wind.
Gleich darauf werde ich in eine warme Decke gehüllt. Es dauert eine Weile, bis ich das spüre. Denn mit einem Mal brechen die Kälte und die Erschöpfung mit aller Macht über mir zusammen. Ich kann nicht mehr, ich schließe die Augen. Ich spüre noch, wie der Mann mich ablegt und meinen Arm in die Hand nimmt, während das Wasser am Boot zu singen beginnt…

Wieder sind sie da. Sie weinen, aber sie lächeln dabei. In ihren Augen steht stolz und unendliche Liebe. Da wird mir auf einmal klar, was das heißt. Ich habe es geschafft! Ich bin frei!
Ich kann es nicht glauben. Ich habe unseren Kampf zu Ende gekämpft.
Da breitet sich Ruhe in mir aus. Wärmt mich. Tröstet mich.
Sie kommen auf mich zu. Knien sich neben mich. Streicheln mir über die Wange.
Du hast es geschafft, jubeln meine Geschwister.
Wir sind frei!
Ich lächele ihnen zu. Ja, wir haben es geschafft.
Meine Mutter beugt sich vor.
Werde glücklich, Liebes.
Nein, ich schüttele den Kopf. Bitte nicht! Lasst mich mit euch gehen, flehe ich sie an. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht weiter. Wir haben gesiegt, wir sind frei. Nehmt mich mit. Mein Vater schüttelt traurig den Kopf.
Muss das sein?
Meine Mutter nimmt seine Hand und sieht mich prüfend an. Dann nickt sie.
Sie kann nicht mehr, Lieber. Lass sie gehen. Es ist gut so.
Zweifelnd sieht mein Vater sie an. Da stehen auch Najya und Niam auf.
Bitte Vater. Lass sie mit uns gehen! Sie war doch sooo tapfer!
Da nickt meine Vater. Er ist traurig, ich sehe es, aber er sieht ein, dass es genug für mich ist. Ich habe den Kampf zu Ende gekämpft. Ich habe es geschafft.
Komm, meine Mutter nimmt mich an der Hand und zieht mich hoch.
Lass uns gehen…

„Verdammte Scheiße“, meint der Arzt. „Zu spät.“

Er nimmt die Decke und zieht sie über das zarte Gesicht des kleinen Mädchens. Sie sieht fast so aus, als ob sie lächelt, denkt er, als er ihren kalten Körper an Land bringt.

 

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