Von der Kunst des Prosaschreibens – 17. Show, don’t tell! – Gefühle IV Schock
Show, don’t tell : Gefühle beschreiben: Schock
von Mara Laue
Rein medizinisch ist der Schock eine körperliche Reaktion, die durch abrupten Blutverlust oder eine andere schwere Verletzung verursacht wird und zum Tod führen kann. Durch den Schock wird die Blutzirkulation vermindert, der Körper wird dadurch nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt, Stoffwechsel und Kreislauf versagen, es kommt zum Herzstillstand.
Im Volksmund bezeichnet man aber auch den seelischen Zustand, der durch eine extreme psychische Belastung hervorgerufen wird, als Schock. Die korrekte medizinische Bezeichnung dafür ist „akute Belastungsreaktion“. Vielleicht kennen Sie diesen Zustand auch unter dem umgangssprachlichen Begriff „Nervenzusammenbruch“, obwohl die Nerven damit nichts zu tun haben, weil keine neuronale (nervliche) Störung vorliegt.
Ein Schock tritt immer ohne Vorwarnung auf. Jemand wird mit einer Situation konfrontiert, für die er keine (psychischen) Bewältigungsstrategien „vorrätig“ hat. Damit die Seele das verkraften kann, schaltet sie in den „Pausenmodus“ oder klinkt sich vorüber gehend vollständig aus. Ein Schockzustand hält – je nach Ursache und ihrer Wirkung auf die betreffende Person – Stunden, Tage oder Wochen an. Während dieser Zeit oder in unmittelbarem Anschluss daran beginnt die Bewältigungsphase, in der die Seele versucht, das Geschehen zu verarbeiten und danach „normal weiterzuleben“. Je nach der Persönlichkeit der betroffenen Person und ihrem sozialen Umfeld macht die eine das mit sich selbst aus, andere suchen das Gespräch mit Freundinnen/Freunden, wieder andere suchen therapeutische Hilfe. Hält der Zustand des Schocks an und die Bewältigungsversuche funktionieren nicht oder nur eingeschränkt, wird er zur posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die professionell behandelt werden muss.
In der Literatur werden seelische Schocks meistens durch den Verrat (im weitesten Sinn) einer nahestehenden Person verursacht oder durch die Aufdeckung eines entsetzlichen „Geheimnisses“, das eine Figur komplett aus der Bahn wirft. Das häufigste Motiv ist, dass jemand vom Treuebruch (Ehebruch, Fremdgehen) eines geliebten Menschen erfährt; oder dass der beste Freund, die eigene Schwester oder ein anderer nahestehender Mensch, dem man vertraut hat, sich als Verbrecherin/Verbrecher entpuppt oder „nur“ eigennützig (egoistisch) intrigiert hat.
Und natürlich ist auch das klischeefreie Beschreiben eines Schocks nicht ganz einfach. „Sie/Er war/stand starr vor Schock“ ist eine klischeehafte Formulierung, die wir vermeiden sollten, obwohl die Schockstarre eine reale Reaktion und sozusagen das „Erstsymptom“ ist. Die Seele kann das, was der Mensch gerade erlebt (hat), nicht fassen, will es nicht wahrhaben, kann es nicht einordnen, nicht verkraften und „schaltet ab“. Aber wie beschreiben wir das? Das kommt darauf an, aus wessen Perspektive wir die Szene beschreiben, ob aus der Sicht der geschockten Person oder der einer anderen, die deren Reaktion sieht und reflektiert. Am schwierigsten ist die Beschreibung aus der Sicht der schockierten Person, denn auch das Aussetzen des Denkens und Fühlens in so einem Moment ist ein gängiges Symptom. Doch eine Beschreibung ist trotzdem möglich.
Sonja starrte auf Bild, das sich ihr bot. Sie sah es – und sah es doch nicht. Und was sie sah, konnte unmöglich sein: Patrick und Janna eng umschlungen, knutschend, sich hektisch die Sachen vom Körper schälend … Das musste eine Halluzination sein. Sonja hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, obwohl sie im Freien vor Jannas Haus stand und Luft genug vorhanden war. Sie war zu Janna gegangen, weil sie mit ihrer besten Freundin über Patrick reden wollte, darüber, dass er sich in letzter Zeit so seltsam und zurückhaltend verhielt. Vor dem Haus parkte Patricks Wagen. Und er …
War das wirklich Patrick? Oder nur jemand, der ihm ähnlich sah? Doch die Bewegungen des Mannes, die sie durch das Fenster sehen konnte, waren zweifellos die von Patrick. Aber das konnte nicht sein. Das konnte doch unmöglich sein!
„Hallo? Ist Ihnen nicht gut?“
Was? Patrick … Nein, das war nicht seine Stimme. Sonja wandte den Kopf zur Seite und sah einen Mann, der sie besorgt anblickte. Hatte er etwas gesagt? Was hatte er gesagt?
„Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich Hilfe holen?“
Sonja sah seinen Mund sich bewegen, aber seine Worte drangen wie zähflüssiger Sirup in ihr Bewusstsein. Hilfe … Hilfe? Es gab keine Hilfe. Sonja blickte wieder zum Fenster und sah erneut das Unmögliche. Ihr wurde übel. Ihre Beine zitterten, und das Zittern griff auf den Rest des Körpers über. Sie wollte schreien, doch kein Ton kam aus ihrem Mund. Sie wollte weglaufen, doch ihre Beine bewegten sich keinen Millimeter. Ein scharfer Schmerz in der Brust riss sie aus der Erstarrung. Alles drehte sich um sie. Sie taumelte.
Der Mann sprang hinzu, fasste ihren Arm. Es fühlte sich an, als schlösse sich eine glühende Zange um ihre Haut. Sie schrie. Erschrocken ließ der Mann sie los. Sonja wankte die Straße entlang, versuchte zu rennen, schaffte aber nur schleppende Schritte, die sich anfühlten, als würde sie durch Morast waten. Ihre Sicht verschwamm und sie konnte kaum noch atmen. Dennoch quälte sie sich weiter vorwärts. Weg hier! Nur weg, weg, WEG!
Doch das Bild von Patrick, der Janna küsste und drauf und dran war, mit ihr ins Bett zu steigen, hatte sich in ihr Bewusstsein eingebrannt. Sie sah nichts anderes mehr. Wahrscheinlich würde sie diese Szene bis ans Ende ihres Lebens vor Augen haben.
Sie knickte um und stürzte auf den Asphalt. Begrüßte den Schmerz, denn der war leichter zu ertragen als der Schmerz über Patricks und Jannas Betrug.
Allein Sonjas körperliche Reaktionen zeigen uns, dass es sich hier nicht um einen kurzen Schreck (im Sinn von Erschrecken) handelt, sondern dass die Sache erheblich gravierender für sie ist. Patricks Verrat raubt ihr den Atem, lähmt sie. Sie versucht unabsichtlich zu leugnen, was sie sieht („War das wirklich Patrick? … Das konnte doch unmöglich sein!“), weil sie das Geschehen nicht verkraften kann. Ihr ist übel, und die harmlose Berührung des Helfers empfindet sie als schmerzhaft wie Feuerzangen, die ihre Haut verbrennen. Sie bricht zusammen. Das alles sind keine „normalen“ Reaktionen und zeigen deshalb, dass Sonja einen Schock erlitten hat, ohne dass das Wort „Schock“ ein einziges Mal genannt wird. Die Reaktionen sprechen für sich.
Beschreiben wir einen körperlichen Schock mit anschließender Bewusstlosigkeit und möglicher Todesfolge:
Ein heftiger Schlag traf ihn gegen die Brust. Er stolperte rückwärts und stürzte. Versuchte sich aufzurichten und schaffte es nicht, weil eine gewaltige Bleiplatte auf seinem Oberkörper ihn am Boden festzunageln schien. Er fühlte Nässe auf seiner Haut, die sich ihren Weg zum Hals und über die Seite zum Boden bahnte. Mühsam hob er den Kopf und sah, dass sich sein Hemd im Brustbereich rapide rot verfärbt. Blut! Er versuchte zu atmen, doch seine Lunge gehorchte nicht. Immer schneller floss das Rot aus seinem Körper. Das hätte ihm Angst machen sollen, aber er spürte nichts. Nur einen Schwindel, der ihn in einen immer dunkler werdenden Mahlstrom wirbelte. Dann – nichts mehr.
Auch hier ist auf den ersten Blick klar, dass es sich bei den Symptomen um einen Schock handelt, und zwar unabhängig davon, dass der Mann von einem Geschoss verletzt wurde (was aus der in dieser Szene nicht geschilderten Situation eines Feuergefechts zwischen Polizei und Gangstern hervorgeht). Er sieht das Blut, begreift aber in dem Moment nicht, was das bedeutet. Er fühlt keine Angst, keinen Schmerz, obwohl beides in der Situation angemessen wäre, wenn es sich nicht um einen Schockzustand handelte. Aufgrund des rapiden Blutverlusts folgt Sekunden später die Bewusstlosigkeit und, falls nicht rechtzeitig Notfallhilfe eintrifft und den Blutverlust stoppen kann, der Tod.
Symptome von Schock:
- Psychische Symptome: Lähmung, Handlungsunfähigkeit oder das Gegenteil in Form von fast zwanghaft anmutenden Tätigkeiten, die der jeweiligen Situation nicht angemessen sind (z. B. Zubereitung des Mittagessens unmittelbar nach dem Erhalt eines Todesnachricht). Fahrigkeit, Zittern, Wut, Aggression, (vorübergehende) Teilnahmslosigkeit; das Gefühl, „neben sich“ zu stehen (sog. „Dissoziation“), Orientierungslosigkeit, Trauer (evt. mit Wein- oder Schreikrämpfen und/oder Selbstverletzung); das Gefühl, das Geschehen um einen herum wie in einem Film zu sehen, an dem man nicht beteiligt ist. Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Halluzinationen (Letzteres kommt eher selten vor). Reaktionsunfähigkeit mit dem Gefühl, unter einer Glasglocke vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein, ebenso das Gefühl zu fallen (als Reaktion darauf sacken Menschen oft real zusammen und fallen hin). Leugnen (nicht wahrhaben wollen) des schockierenden Ereignisses.
- Körperliche Symptome: dieselben wie bei Panikattacken. Schweißausbrüche, Herzrasen, Atemnot, Erstickungsgefühle, Übelkeit, körperliche Schmerzen ohne akute Ursache; Lähmung bis hin zur Ohnmacht. Bei körperlichem Schock durch Verletzungen: Herzrasen, Schwindel, Atemnot, Wahrnehmungsstörung, Kreislaufversagen. Oft, aber nicht immer, ist im Moment des Schocks bis zum Tod das Schmerzempfinden ausgeschaltet. Der „stumme“ Schocktod tritt also ebenso auf wie der, bei dem die Opfer bis zum Eintritt des Todes bzw. Atemversagen mehr oder weniger entsetzlich schreien.
- PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung): Psychische und körperliche Reaktionen wie in der akuten Schocksituation, und zwar immer dann, wenn etwas an diese Situation erinnert, und sei es nur ein Geräusch, ein Geruch, ein flüchtiges Bild etc. „Flashbacks“ = akute Erinnerungen an das Schockerlebnis, das so plastisch erinnert wird, als würde es in diesem Moment erneut stattfinden. In diesem Zustand werden auch früher erlittene Schmerzen „erinnert“ und erneut gespürt, manchmal ebenso heftig wie der real erlebte Schmerz. Albträume, Angstzustände bis hin zu Phobien, Depression. Im schlimmsten Fall Persönlichkeitsstörungen als Langzeitfolge.
- Synonyme für Schock: Nervenzusammenbruch (bitte nur in wörtlicher Rede verwenden, weil die Bezeichnung sachlich falsch, im Volksmund aber gebräuchlich ist), Entsetzen, (seelische) Erschütterung, Fassungslosigkeit, Trauma, perplex sein, Eispanzer um die Seele/das Herz haben/spüren.
In der nächsten Folge: Landschafts- und Ortsbeschreibungen
Weitere Folgen von „Show, don’t tell“:
- Personen- und Charakterbeschreibung