Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – 18. Show, don’t tell! – Landschafts- und Ortsbeschreibungen

Show, don’t tell: Landschafts- und Ortsbeschreibungen

von Mara Laue

Das Beschreiben von Landschaften ist ebenso eine Kunst für sich wie das Beschreiben von Gefühlen. Selbst bei manchen Profiautorinnen/-autoren gerät sie zu einem Textteil, der an einen Auszug aus einem Reiseführer oder an Tante Lises Reisebericht aus dem letzten Urlaub erinnert. Um das zu vermeiden, greift der Trick, gerade eine Landschaft durch die sie betrachtenden Augen einer Person zu beschreiben und das, was diese Person sieht, mit ihren Gefühlen zu verknüpfen. Ich verdeutliche das an dem Beispiel eines Sees.

Ein angenehmer Geruch kitzelte Noras Nase. Sie blieb stehen, schnupperte und brauchte eine Weile, um ihn zu identifizieren. Eindeutig Lavendel. Aber hier? Mitten im Wald? Sie sah sich um, konnte aber nirgends Lavendel zwischen den Holunderbüschen und Buchenschösslingen, die den Wegrand säumten, entdecken. Kopfschüttelnd ging sie weiter.
Der Wald lichtete sich. Nora folgte dem schmalen Weg und seiner Biegung nach links. Die dicke Moosschicht unter ihren Füßen machte das Wandern angenehm. Der Lavendelduft wurde stärker, je näher sie dem Waldrand kam. Als sie ihn erreicht hatte, blieb sie stehen. Vor ihr lag – das Reich der Waldelfen: ein Teich mitten auf der Lichtung, in dem sich das Blau des Himmels spiegelte und an dessen Rand Schilf sich flüsternd in der Sommerbrise wiegte. Über seinem Wasser schwirrten farbenprächtige Libellen wie glitzernde Juwelen durch die Luft.
Eine kleine Insel in der Mitte ragte wie ein Amethyst aus dem Wasser, denn sie war über und über mit blühendem Lavendel bedeckt, dessen Duft der Wind über den See bis in den Wald trug. Weidenbäume säumten das Ufer, deren knorrige Gestalten Nora an die Sagen von den Dryaden erinnerte, die in solchen Bäumen wohnten. Ihre starken Äste vermittelten ihr das Gefühl, sie müsste in ihrem Schatten vollkommen vor der Welt geschützt sein. Rund um die Stämme wuchsen goldgelbe Blumen, die Nora nicht kannte. Auch sie verströmten einen betörenden Duft, der sich mit dem des Lavendels mischte – ein Odeur, das sie verlockte, sich in das goldene Bett zu legen und zu träumen.
Nora stand still und lächelte. Ruhe überkam sie. Und der Wind blies ihr mit dem Duft der Blumen einen tiefen Frieden in die Seele.

Nun haben wir ein sehr lebendiges Bild des Sees vor Augen, weil er nicht einfach nur beschrieben wird, sondern das, was Nora sieht, eine direkte Wirkung auf sie hat und Gefühle in ihr weckt. Eine suboptimale Beschreibung sähe so aus:

Nora wanderte durch den Wald über einen moosbewachsenen Weg, an dessen Rändern Holunder und Buchenschösslinge wuchsen. Die Luft roch nach Lavendel und der Duft wurde stärker, je näher sie dem Waldrand kam. Als sie ihn erreichte, sah sie einen See inmitten der Lichtung. Schilf wuchs an seinem Rand und das Ufer war mit alten Weidenbäumen gesäumt, zu deren Wurzeln gelbe Blumen wuchsen. In der Mitte des Sees erhob sich eine kleine Insel aus dem Wasser, die über und über mit Lavendel bedeckt war. Libellen schwirrten wir funkelnde Juwelen über dem Wasser. Ein friedvoller Anblick.

Auch diese Beschreibung scheint auf den ersten Blick durch Noras Augen zu erfolgen. In Wahrheit wird hier aber den Lesenden erzählt, was Nora tut (wandern) und wie es in der Umgebung aussieht, durch die sie wandert. Das wird lediglich aufgezählt. Deshalb fehlt dem Text die Substanz, die Lebendigkeit, die dadurch erzeugt wird, dass alles, was Nora sieht (und riecht) in ihr Gefühle auslöst und dadurch einen direkten Bezug zu ihr hat. Mit der Beschreibung dieser Gefühle werden die gleichen oder zumindest ähnliche auch in den Lesenden erweckt. Dadurch empfinden sie den ersten Text als „greifbar“, als etwas, das nicht nur Nora, sondern auch die Lesenden berührt.
Lesen wir beide Varianten noch einmal und gern auch mehrmals (evt. laut) durch und lassen wir sie auf uns wirken. Spätestens dadurch ist der Unterschied deutlich zu spüren. Jedoch kann man die „suboptimale“ Variante in Kurzgeschichten durchaus verwenden.

Allerdings kommt es gerade bei der Landschaftsbeschreibung darauf an, welchen Zweck diese erfüllen soll und wie wichtig sie für die gegenwärtige oder künftige Handlung ist. Bei dem obigen Beispiel mit dem See ist für Nora wichtig, dass dieser „verwunschene Ort“ ihr Herz berührt. Mit Sicherheit hat das für die folgende Handlung der Geschichte eine gravierende Bedeutung, andernfalls sie nicht so ausführlich hätte beschrieben werden müssen.
Anders verhält es sich, wenn wir die Lesenden z. B. in einem Krimi „vorwarnen“ wollen, dass die Klippe, an der die Heldin entlang wandert, gefährlich ist. Für eine solche Situation genügt folgende Beschreibung:

Der Weg zum Haus führte als ausgetretener, mit Gras bewachsener Pfad über die Hügel und ein Stück entlang der Klippe. Nora ging langsam, um die frische Seeluft noch ein bisschen länger zu genießen, und hielt ihr Gesicht dem Wind entgegen. Etwa hundert Meter unter sich hörte sie die Wellen gegen die Felsen donnern, die aber nicht vollständig das Kreischen der Möwen übertönen konnten. Obwohl kein Zaun am Klippenrand Wanderer vor dem Absturz schützte, fühlte Nora sich sicher, denn der Weg lag weit genug davon entfernt, dass sie ihn schon hätte verlassen müssen, um in diese Gefahr zu geraten. Zwar hatte John behauptet, dass starke Böen in der Vergangenheit schon mehrfach Menschen in den Abgrund gerissen hatten, die allen Warnungen zum Trotz bei Sturm diese Abkürzung zum Dorf genommen hatten. Aber sie hatte nicht vor, bei Sturm überhaupt aus dem Haus zu gehen, geschweige denn diesen Weg zu nehmen.

Diese Beschreibung enthält alles, was man wissen muss, um die Gefährlichkeit der Klippe zu erkennen. Sie ist etwa hundert Meter hoch; das heißt, ein Absturz wäre unweigerlich tödlich. (Die Geschwindigkeit, die der fallende Körper beim Aufprall auf die Wasseroberfläche nach hundert Metern erreicht hat, ist so hoch, dass das Wasser nicht schnell genug zur Seite weichen kann und der Körper so hart wie auf Beton aufprallt.) Sie ist nicht durch einen Zaun gesichert; deshalb wäre es unklug, den Weg zu verlassen und dem Rand zu nahe zu kommen. Und der kürzeste Weg vom Dorf zum Haus führt direkt an der Klippe entlang. Auch wenn das nicht ausdrücklich gesagt wird, dürfen wir davon ausgehen, dass zwischen dem Weg und dem Klippenrand nur wenige Meter liegen, mindestens aber fünf, weil Nora sich trotzdem sicher fühlt. Außerdem hat es schon tödliche Unfälle gegeben, wenn Wandernde bei Sturm dort entlang gegangen sind. Und wir können uns unschwer vorstellen, dass ein kräftiger Schubs oder zwei genügen, um jemanden über die Klippe zu stürzen.
Hier ist jedoch, weil diese Szene nur der „Vorwarnung“ für eine Gefahr dienen soll, keine so intensive Beschreibung erforderlich wie die über den See. Denn die „aktive Rolle“, die die Klippe in der Geschichte noch zu spielen hat, kommt erst später an die Reihe. Dort kann sie, falls (!) es zur Handlung passt und sie diese nicht aufhält, noch intensiver beschrieben werden. Hier dient die Beschreibung nur dem subtilen Spannungsaufbau. Würde sie an dieser Stelle intensiver ausgearbeitet, käme dieser Effekt weniger zum Tragen oder ginge vollständig durch die ausufernde Beschreibung unter.
Dennoch ist auch diese Beschreibung mit Noras Gedanken/Gefühlen und Tätigkeiten verknüpft: Sie geht (langsam), hält das Gesicht in den Wind, genießt die Seeluft, hört die Wellen donnern und die Möwen kreischen, fühlt sich sicher, denkt an Johns Warnung und beschließt, bei Sturm nicht das Haus zu verlassen. Ohne diese Verknüpfung sähe der Text so aus:

Nora ging den Weg zum Haus entlang, der als ausgetretener, grasbewachsener Pfad über die Hügel und ein Stück entlang der Klippe führte. Etwa hundert Meter unter ihr donnerten die Wellen gegen die Felsen, konnten aber nicht vollständig das Kreischen der Möwen übertönen. Kein Zaun schützte am Klippenrand Wanderer vor dem Absturz, aber der Weg lag weit genug davon entfernt, dass die Gefahr eines Absturzes nicht bestand. Jedoch hatten in der Vergangenheit starke Böen schon mehrfach Menschen in den Abgrund gerissen, die allen Warnungen zum Trotz bei Sturm diese Abkürzung zum Dorf genommen hatten.

Wieder erkennen wir deutlich den Unterschied: In Text 2 werden die Dinge weitgehend sachlich aufgezählt. Deshalb sollten wir immer darauf achten, dass wir, sofern das zur Situation im Text passt (!), eine Beschreibung durch die Augen einer handelnden Figur abgeben und sie mit deren Tätigkeiten, Gedanken und Gefühlen verknüpfen und die auf diese Weise in die Handlung integrieren.

Doch damit allein ist es nicht getan, denn unsere Figuren brauchen immer (!) einen handfesten Grund (!), warum sie der Umgebung in diesem Moment ihre Aufmerksamkeit schenken. Wäre Nora in den obigen Beispielen in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen oder hätte sie sich mit einem Begleiter unterhalten, hätte sie den Lavendelduft bewusst vielleicht gar nicht wahrgenommen und der Schönheit des Sees kaum Beachtung geschenkt. Und bei der Szene mit der Klippe erzeugt erst ihr Entschluss, die Seeluft noch länger zu genießen in Verbindung mit dem Wind und den donnernden Wellen, die Assoziation zu der potenziellen Gefahr, in der sie sich befindet. Auch hier hätte sie die Dinge gar nicht bewusst wahrgenommen, wenn sie an etwas anderes gedacht oder sich mit einer Begleiterin gestritten hätte. Und was unsere Figuren nicht wahrnehmen, wissen oder in diesem Moment beachten, können wir auch nicht beschreiben, solange wir in/aus ihrer Perspektive schreiben. Das wäre ein Perspektivbruch. (Mehr zu diesem Thema in einer späteren Folge über die verschiedenen Perspektivarten.)
Diese Prämisse zu missachten, ist der häufigste Fehler, der beileibe nicht nur Neulingen passiert. Dadurch „mutieren“ (nicht nur) Landschaftsbeschreibungen zu zusammenhanglosen Aufzählungen, die ohne konkreten Bezug zur Handlung im Raum stehen und deshalb oft wie Fremdkörper im Text wirken.
Doch um das zu vermeiden und einen Handlungsbezug herzustellen (und einer Figur einen Grund zur Betrachtung zu geben), genügt oft schon ein einziger, der Beschreibung vorangestellter Satz, z. B.: „Das Gefühl beobachtet zu werden, ließ Aiko stehen bleiben und sich umsehen.“ Die darauf folgende Beschreibung, selbst wenn sie nur die Landschaft „aufzählt“, hat einen Bezug zur Handlung und vor allem zu Aiko, weil er sich umsieht, um einen Beobachter zu entdecken. In Gedanken, auch wenn das nicht so direkt gesagt wird, hakt er alles, was er sieht, ab als „kein Beobachter dort oder dort und da drüben auch nicht“. Das können wir in so einem Fall am Ende der Betrachtung/Beschreibung zusammenfassen als: „Er konnte nirgends einen Beobachter entdecken. (Kopfschüttelnd ging er weiter.)“ Kleine Tricks – große Wirkung.
Denn manchmal brauchen wir solche Vorab-Informationen über das Aussehen einer Landschaft, z. B. wenn dort „gleich“ das dicke Schlachtgetümmel tobt. In Actionszenen ist kein Platz für ausufernde oder überhaupt Beschreibungen nach der „Show“-Prämisse. Für solche Fälle muss der jeweilige Ort des Geschehens vorher beschrieben werden, um den Lesenden eine Vorstellung von der Umgebung zu geben. Siehe oben: Unsere ums Überleben kämpfenden Figuren haben weder Zeit noch Nerven, sich Gedanken über das Aussehen ihrer Umgebung zu machen. Sie konzentrieren sich auf den Kampf. Und was sie nicht (gedanklich) beachten, können wir auch nicht den Lesenden beschreiben.
Um ihnen aber die Umgebung zu zeigen, in der gleich gekämpft wird, können wir eine der Figuren z. B. überlegen lassen:

Aiko blinzelte in die aufgehende Sonne, deren Strahlen den Himmel rot färbten – wie das Blut, das heute reichlich im Tal fließen würde. Noch wirkte alles friedlich. Hellgrün leuchteten die Blätter der Linden, dunkelgrün die der Eichen, und Butterblumen auf der Wiese wirkten wie Goldklumpen. Aiko sah sich um. Von wo würde der Feind wohl angreifen? Die „Sieben Riesen“, die Menhire, die den Talausgang bewachten, waren zu schmal, als dass sich dahinter mehr als höchstens zwei Angreifer hätten verstecken können. Die Holunderbüsche, die sich zu beiden Seiten des Eingangs am Fuß der Felsen entlang zogen, standen zu dicht. Zwar hätte sich eine kleine Armee hinter ihnen verbergen können, aber die Krieger hätten sich erst einmal den Weg aufs offene Feld freikämpfen müssen – und wären von den Bogenschützen erschossen worden, bevor sie auch nur einen Fuß ins Tal hätten setzen können. Von den steilen und zerklüfteten Felsen aus war ebenfalls kein Angriff möglich. dort hätten nicht einmal Bergziegen Halt gefunden. Aber wo steckte der Feind? Wohl kaum in dem Stroh, das jemand karrenweise überall in flachen Haufen auf der Wiese verstreut hatte. – Stroh? Um diese Jahreszeit?

Jede Nennung eines Landschaftsmerkmals hat einen Bezug zur Handlung, denn ihr liegt die Überlegung zugrunde, ob es sich als Versteck für die feindliche Armee eignet (die, man ahnt es, unter dem Stroh verborgen ist). Die Lesenden bekommen so einen Eindruck von der Umgebung und stutzen nicht, wenn es später heißt: „Aiko rannte auf die Sieben Riesen/das Holundergebüsch zu.“

PRÄMISSE:

Landschafts- und Ortsbeschreibungen IMMER in eine Handlung einbetten! Idealerweise bedingt die betreffende Handlung diese Ortsbeschreibung sogar. Alternativ können wir sie in einen Dialog packen. Doch auch dabei sollte sich die Notwendigkeit der Beschreibung aus eben diesem Dialog ergeben, sonst bleibt unter Umständen die Stringenz auf der Strecke.
Kurzgeschichten bilden hier eine Ausnahme, denn wegen ihrer erforderlichen Kürze müssen oft notwendige Beschreibungen zusammenfassend „aufgezählt“ werden. Mehr zur Kunst der Kurzgeschichte in einer späteren Folge.

Beschreibungen in der Regionalliteratur

Die Regionalliteratur, egal ob Krimi, humorvolle Geschichte, Liebesroman oder sonstige, lebt mehr als jedes andere (Sub)Genre von der Beschreibung des Settings, des Ortes, der Landschaft, in dem/der sie spielt. Lesende sollen und wollen neben der erzählten Geschichte den Roman als „Fremdenführer“ verwenden können, um sich die Schauplätze in der Realität anzusehen. Eine möglichst korrekte Beschreibung realer Verhältnisse ist deshalb unabdingbar. Die jedoch niemals wie ein Auszug aus einem Reiseführer wirken darf! Das würde die Atmosphäre zerstören oder gar nicht erst entstehen lassen.
Viele Autorinnen und Autoren bauen diese Beschreibung „aus heiterem Himmel“, das heißt ohne jeden Grund in den Roman ein. Oft lassen sie ihre Hauptfiguren oder eine andere Person zu diesem Zweck eine Strecke gehen oder fahren, nur um eine Gelegenheit und einen Grund zu haben, die Straßennamen zu nennen und/oder eine oder mehrere Sehenswürdigkeiten zu beschreiben. Ist die Person ortsfremd, wird ihr manchmal sogar die Teilnahme an einer touristischen Stadtrundfahrt aufgedrückt, nur um die genretypische Ortsbeschreibung anbringen zu können. Nicht nur, aber gerade auch diese „Unsitte“ hat die Regio-Literatur in den Verruf gebracht, „Stadtpläne in Prosa“ zu sein.
Um solche zusammenhanglosen Einschübe zu vermeiden und die Beschreibungen in den Text zu integrieren, gibt es das oben genannte probate Mittel: Wir betten die Beschreibung in die Handlung ein in einer Weise, dass die Handlung die Beschreibung „zwingend“ erfordert. Und nein, das Beschreiben, was eine Figur auf dem Heimweg oder der Stadtrundfahrt sieht, ist KEINE Handlung, sondern das Aufzählen von Beobachtungen bzw. Gedanken. Literarische Handlungen haben IMMER einen Bezug zu der Geschichte und sind idealerweise für sie unabdingbar. Ein suboptimales Beispiel sähe so aus:

Kim machte Feierabend. Um den Kopf frei zu bekommen, ging sie zu Fuß. Ihr Weg führte sie vorbei an der mittelalterlichen Burg am Ende der Schlossstraße, deren weiße Mauern und Türme sich wie die Finger einer bleichen Hand dem Himmel entgegenstreckten. Ihrer Bauweise mit dem ornamentverzierten Portal zeigte, dass sie im zwölften Jahrhundert erbaut worden war. Auf der rechten Seite des Weges fiel eine Böschung steil ab, an deren Fuß der Triftbach gurgelnd floss. Da hier keine Bäume standen, hatte man einen herrlichen Blick über die Stadt. Links erhoben sich die markanten Türme der Petrikirche, rechts konnte man den Stadtpark mit seinen gepflegten Wegen und Beeten erkennen, in denen die um diese Jahreszeit üblicherweise dort blühenden roten Sommerastern mit dem Goldmohn um die Wette leuchteten. Zwischen beiden schlängelte sich das graue Band Schnellstraße zur Küste.
Als Kim zu Hause ankam, stellte sie fest (…)

In diesem Text muss Kim nur deshalb zu Fuß nach Hause gehen, um einen Grund zu schaffen, den Lesenden einen Teil der Stadt zu zeigen. Diese Beschreibung enthält keine Handlung und hat für die Geschichte nicht die geringste Relevanz. Kim macht Feierabend. Punkt. Erst mit „Als sie zu Hause ankam“ geht die eigentliche Handlung weiter. Jedoch: Rein technisch („Show, don’t tell!“) gibt es an dieser Szene nichts auszusetzen.
Allerdings wird eine solche „sinnlos“ eingeschobene Beschreibung von vielen Lesenden zu Recht als unglaubhaft empfunden, wenn die Person, die betrachtend durch die Gegend geht oder fährt, dort beheimatet ist. Einheimische sind mit ihrer Stadt/Wohngegend so vertraut, dass sie sich ohne konkreten Anlass keine Gedanken darüber machen, welcher Baustil beim Burgportal verwendet wurde, wie der Bach unterhalb der Böschung heißt oder welche Kirche links der Schnellstraße liegt und dass der Stadtpark sich rechts davon befindet. Niemand täte das ohne zwingenden Grund.
Wenn wir nach Hause gehen oder fahren, sind wir auf dem Weg dorthin normalerweise in Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt und merken nicht einmal bewusst, welche Gebäude oder Landmarken wir passieren, eben weil wir sie sattsam kennen und genau wissen, wo sie stehen und uns darüber keine Gedanken machen. Deshalb ist, wenn der bisherige Text in der personalen Perspektive von Einheimischen geschrieben wurde, so ein Einschub obendrein ein Perspektivbruch, weil Autorin/Autor hier den Lesenden erzählen, was die Person sieht, aber was sie selbst gar nicht bewusst wahrnimmt.
Ein Roman verkraftet durchaus einen oder zwei solcher Einschübe, wenn sie wie dieses Beispiel relativ kurz sind, obwohl man sie zugunsten der Spannung auch im Roman vermeiden sollte. Kommen sie jedoch öfter vor, wirken sie mit zunehmender Häufigkeit wie das, was sie sind: konstruiert und irrelevant. Binden wir die Beschreibung in eine Handlung ein:

Kim machte Feierabend. Um den Kopf frei zu bekommen, ging sie zu Fuß nach Hause. Als sie auf der Höhe der Rabenburg ankam, deren weiße Mauern und Türme sich wie die Finger einer bleichen Hand dem Himmel entgegenstreckten, nahm sie bei einem der Büsche am Burgtor eine Bewegung wahr. Sie zuckte zusammen. Versteckte sich dort jemand? Lauerte ihr jemand auf? Zwar konnte sie niemanden sehen, hatte aber das Gefühl beobachtet zu werden.
‚Einbildung!’, versuchte sie sich zu überzeugen. Vergeblich. Sie ging schneller und widerstand dem Impuls sich umzudrehen. Links kam das Portal zum Innenhof in ihr Blickfeld. Der steinerne Löwe auf dem Scheitelpunkt seines Rundbogens erschien ihr wie ein personifizierter Schutzengel. Sie sprang in die Deckung des Portals. Links und rechts in dessen Wände waren Nischen eingelassen, in denen früher Wachposten gestanden hatten. Kim quetschte sich in einen davon, hielt die Luft an und lauschte, während ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, ob die Leute im zwölften Jahrhundert, die diese Nischen erbaut hatten, wohl hatten ahnen können, dass sie eines Tages einer Frau als Versteck vor einem Verfolger dienen würden.
Schritte knirschten auf dem Kiesweg vor dem Portal – und gingen vorbei, ohne anzuhalten. Kim atmete auf. Sie wartete eine Weile, um sicherzugehen, dass derjenige, der da draußen herumlief, nicht zurückkehrte, ehe sie ihr Versteck verließ. Als sie auf den Weg hinaustrat, stand der Typ in der Lederjacke, den sie während der letzten Tage immer wieder in ihrer Nähe hatte herumlungern sehen, nur ein paar Meter entfernt und blickte sie direkt an. Scheiße!
Sie drehte sich um, um zurück zum Büro zu rennen – und fand den rettenden Ausweg von einem zweiten Kerl in Lederjacke versperrt. So wie beide sie ansahen, hatten sie nichts Gutes im Sinn. Flucht war aussichtslos, da der Weg in beide Richtungen für sie abgeschnitten war. Als einziger Ausweg blieb nur noch die steile Böschung neben dem Weg. Dort heil hinunterzukommen, wäre nicht nur ein gewaltiges Risiko, das mehr als eine Verletzungsgefahr barg, sie würde unten unweigerlich im Triftbach landen. Aber lieber abgeschürfte Haut, zerrissene Kleidung und nasse Beine bis zu den Knien, als sich der wahrscheinlich nicht existierenden Gnade der beiden Typen auszuliefern. Mit etwas Glück würden die ihr nicht in den Abgrund folgen. Kim rannte los und sprang die Böschung hinunter.

Bei diesem Beispiel erhalten die Lesenden teilweise dieselben Informationen und sogar eine noch intensivere Beschreibung des Burgportals, aber sie haben einen direkten Bezug zur Handlung und ergeben sich aus ihr. Die Kirche, den Park und die Schnellstraße heben wir uns für eine andere Szene auf oder lassen sie weg. Sie hier „mit Gewalt“ hineinzuquetschen, wäre wieder des Guten zu viel.

Sogar eine Stadtrundfahrt kann man auf ähnliche Weise in die Handlung einbinden.

Huber fühlte seinen Mund trocken werden, als er den Stadttour-Bus bestieg. Unauffällig betrachtete er die bereits auf ihren Plätzen sitzenden Fahrgäste, während er durch den Mittelgang ging und sich einen Platz suchte. Wer von ihnen war der Mann, der ihm die Botschaft hatte zukommen lassen? Und warum sollte Huber ausgerechnet an einer Stadtrundfahrt teilnehmen? Er hatte sich kaum gesetzt, als der Bus auch schon los fuhr.
Der Stadtführer nahm das Mikrofon zur Hand und begrüßte die Gäste. „Und hier haben wir gleich zu Anfang unserer Tour das markanteste Wahrzeichen der Stadt, meine Damen und Herren. Blicken Sie bitte nach links. Dort sehen Sie das im Jahr 1756 erbaute Denkmal für König Geromir. Es war das erste in dieser Gegend errichtete Denkmal, das vollständig aus Marmor besteht.“
Huber wandte gehorsam den Kopf nach links, ließ aber wieder seinen Blick über die Mitreisenden gleiten. Zeigte einer von ihnen kein Interesse an der Sehenswürdigkeit? Blickte vielleicht sogar zu Huber hin? Doch soweit er die Leute im Blick hatte, benahmen sie sich alle ganz normal. Umdrehen und nach hinten blicken wollte er nicht, das wäre aufgefallen, besonders da der Reiseleiter die Aufmerksamkeit der Leute schon in eine andere Richtung lenkte.
„Wenn Sie an der kommenden Kreuzung nach rechts blicken, sehen Sie die schnurgerade Prachtallee, die zum Schloss führt. Sie beherbergt Europas ältesten Bestand an Linden, exakt tausend an der Zahl.“
Wieder blickte Huber in die angegebene Richtung. Scheinbar von der Allee fasziniert, starrte er so lange darauf, dass er den Kopf nach hinten drehen musste, um sie noch eine Weile länger sehen zu können. Aus den Augenwinkeln betrachtete er dabei die hinter ihm in seiner Reihe sitzenden Reisenden. Da! Der Mann mit dem schwarzen Hut. Beobachtete er Huber oder bildete er sich das nur ein?

Wenn man Hubers zunehmende Nervosität mit ins Spiel bringt, seine steigende Angst und ihn zunächst den Falschen verdächtigen lässt, kann man, wenn man den jeweiligen Anlass zur Beschreibung der Sehenswürdigkeiten variiert und sie nicht am laufenden Band, sondern mit etwas handlungsgefülltem (!) Abstand schildert, die gesamte Stadtrundfahrt zu einer spannenden Handlung machen. Die Lesenden nehmen die stadttypischen Sehenswürdigkeiten dann zwar wahr (und werden sie bei einem Besuch der betreffenden Stadt entsprechend wiedererkennen), aber sie stehen nicht im Mittelpunkt, sondern begleiten „nur“ die Handlung.

Schwieriger ist es bei Kurzgeschichten. Grundsätzlich: Bei der Kurzgeschichte liegt die Kürze in der Würze, das kann nicht oft genug betont werden. Dort wird jede Beschreibung und sonstige Information, die nicht zwingend für das Verständnis der Handlung oder deren Entwicklung erforderlich ist, weggelassen. Deshalb sind Ortsbeschreibungen in einer Kurzgeschichte in der Regel fehl am Platz. Sollen sie dennoch eingeflochten werden – z. B. weil die Anthologie, für die die Story geschrieben werden soll, einen „Regionalbezug“ zwingend vorschreibt – müssen sie in die Handlung eingebunden und ein wichtiger Bestandteil davon sein.
Das kann geschehen, indem die Handlung ganz oder teilweise z. B. im bekannten Dom der Stadt spielt oder in einem über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Lokal. Oder dass die Kontrahenten sich vor dem Trevi-Brunnen in Rom prügeln und einer den anderen hineinstößt, der dann verdächtigt wird, die hineingeworfenen Münzen stehlen zu wollen. Jedoch MUSS jede genannte Lokalität für die Handlung wichtig sein, sonst ist sie überflüssig. Spielt es keine Rolle, dass das Opfer in einer Kriminalstory vom Wohnzimmerfenster aus einen herrlichen Blick auf den Hamburger Michel oder die Münchener Liebfrauenkirche hat, hat eben diese Aussicht in der Story nichts zu suchen, weil sie nicht zur Handlung gehört und deren Entwicklung unangenehm aufhält.

Merken wir uns also:

  • Wir betten nicht nur bei Regioliteratur Ortsbeschreibungen immer in eine Handlung oder einen Dialog ein.
  • Wir lassen die Beschreibung nach Möglichkeit aus der Handlung entstehen.
  • Wir verteilen die jeweilige „Region“ ruhig über den ganzen Roman, statt sie als „geballte Ladung“ in einer einzigen oder einigen wenigen Szenen zu thematisieren. Auf diese Weise bleiben die Beschreibungen interessante Highlights.
  • Wir verzichten in Kurzgeschichten auf Ortsbeschreibungen oder bauen die Geschichte so auf, dass diese Beschreibungen für die Geschichte erforderlich und ein unverzichtbarer Bestandteil sind.

 

In der nächsten Folge: Personen- und Charakterbeschreibung

One thought on “Von der Kunst des Prosaschreibens – 18. Show, don’t tell! – Landschafts- und Ortsbeschreibungen

  1. Hallo, Mara,
    nach meinem Dafürhalten ist dieser Beitrag über Landschafts- und Ortsbeschreibungen einer Deiner wichtigsten Ratschläge an Autorinnen und Autoren überhaupt. Hier werden – und Deine Beispiele sind Beweis genug – von unerfahrenen wie erfahrenen Schreibern wohl die häufigsten Fehler gemacht. Den Grund sehe ich in einem übertriebenen und ungerechtfertigten Drang, den Leser „theoretisch“ in eine Szene einzubeziehen. Wie es besser geht, hast Du treffend herausgearbeitet. Ein Paradebeispiel für Orts-(und Personen)beschreibungen ist Victoria Aveyards epischer Fantasyroman „Das Reich der Asche“ (penhaligon-Verlag, 2021, ISBN 978-3-7645-3270-3) in der deutschen Übersetzung von Michaela Link, was ich als Stilelement in der Rezension auch auf meiner Homepage hervorgehoben habe. Bessere Ortsbeschreibungen durch Handlung unr Eindrücke habe ich nach meiner Erinnerung nirgends sonst gefunden.
    Wieder hast Du einprägsam den Unterschied des Machbaren und Geeigneten in Roman und Kurzgeschichte aufgezeigt. Mit Schmunzeln betrachte ich dabei die dazu passende aktuelle Veröffentlichung Deines Schreibratgebers „Die Kunst der Kürze“, der diese Reihe bei Zugetextet sicherlich perfekt ergänzt. Schon wieder bin ich von einem Beitrag daraus begeistert.
    Viele Grüße
    Michael Kothe, Autor

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