Von der Kunst des Prosaschreibens – 2. Der Aufbau einer Geschichte
Tipps von Mara Laue
1. Grundlagen
Wie eine Geschichte aufgebaut ist, weiß doch jeder – oder? Sie hat Anfang, Mitte und Schluss. So weit, so selbstverständlich. Aber nicht mehr ganz so eindeutig, wenn es um kreatives Schreiben geht. Denn wo beginnt eine Geschichte? Und: Beginnt man den Text mit dem realen Anfang? Oder mittendrin?
Diese Fragen erscheinen auf den ersten Blick paradox, aber sie gewinnen an Bedeutung, wenn man eine spannende Geschichte, einen spannenden Roman schreiben will. An dieser Stelle vorweg: JEDE Geschichte braucht Spannung, auch wenn sie nicht zu einem ausgesprochenen Spannungsgenre (wie z. B. Krimis) gehört. Ein Liebesroman, in dem nichts weiter passiert, als dass ein Paar sich kennenlernt, sich verliebt, die gemeinsame Zukunft plant, diverse Episoden der Liebe erlebt und am Ende heiratet, reißt niemanden vom Hocker, weil sie sterbenslangweilig ist.
Als Autorinnen/Autoren müssen wir unser Lesepublikum idealerweise schon beim ersten Satz packen, in jedem Fall aber vom ersten Kapitel an, sonst liest man nicht weiter. (Zur Gestaltung eines guten Anfangs kommen wir ausführlich in einem spätern Beitrag.) Doch bevor wir so weit sind, müssen wir erst einmal die „Zutaten“ zusammentragen, die wir für die gute Geschichte brauchen – egal ob Roman oder Kurzgeschichte –, die wir erzählen wollen.
Das Kernthema
= die Prämisse = worum es geht. Das sollte möglichst interessant sein oder ungewöhnlich verarbeitet werden.
Originalität
= ein Thema oder eine in die Gesamthandlung eingebaute Variante, die nicht schon in gefühlt jedem zweiten Roman vorkommt. Das kann ein ungewöhnlicher Charakter sein, ein ungewöhnliches für die Handlung wichtiges (!) Hobby oder Haustier oder andere Accessoires, die die Handlung beeinflussen.
Check: Alles, was man selbst sattsam aus anderen Romanen/Filmen/Storys kennt, ist nicht originell. Warum die Originalität wichtig ist: Originelle Geschichten haben größere Chancen, von Verlagen angenommen zu werden. Außerdem: 08/15-Geschichten werden keine Bestseller.
Der tragfähige Plot
= Ein in sich konsequent logisch aufgebauter Ablauf der Gesamthandlung von Anfang bis Ende.
Protagonistin/Protagonist
= Eine sympathische Hauptperson, mit der die Lesenden sich identifizieren, mit der sie leiden, weinen, lachen können. Die Handlung ist um die Hauptfigur herum aufgebaut. Alles (!), was passiert, hat einen direkten oder indirekten Bezug zu ihr. Und selbstverständlich hat diese Figur Ecken, Kanten, Fehler und Schwächen neben ihren auch vorhandenen Stärken und darf sich auch ab und zu mal richtig daneben benehmen. Aber nicht zu viel! Gerade im Krimigenre sind die unleidlichen, rüpelnden, kaputten Ermittelnden, die erst einmal eine Therapie bräuchten, bevor man sie auf die Menschheit und die Kollegschaft loslassen kann, beim Lese- und Filmpublikum sattsam out.
Antagonistin/Antagonist
= Gegnerin/Gegner der positiven Hauptfigur mit einem handfesten, nachvollziehbaren (!) Motiv, warum sie/er deren „Feindin/Feind“ ist. Dass solche Figuren „einfach nur böse“ sind, reicht nicht aus. Ihre „Bösartigkeit“ muss begründet werden (und sei es mit der allzu beliebten schweren psychischen Störung). Auch in einem Liebesroman oder humorvollen Roman sollte die Hauptperson um der Spannung willen einen Gegenpol haben, an dem sie sich „reiben“ kann, auch wenn das „nur“ das eigene Gewissen, Ängste oder negative Charaktereigenschaften sind, die sie behindern.
Konflikte
= Ein Hauptkonflikt, aus dem sich mindestens zwei Nebenkonflikte ergeben. Wichtig: Jeder Konflikt sollte für die Hauptfigur gravierende Konsequenzen haben. Sie mindestens einmal im Verlauf der Handlung in die berühmte Zwickmühle zu bringen, dass jede mögliche Lösung die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub ist oder zu sein scheint, ist in keinem Genre verkehrt.
Wendepunkte
= Die Handlung schlägt immer wieder aufs Neue eine von den Lesenden möglichst unerwartete Richtung ein. Eine linear erzählte Handlung, die keine „Haken schlägt“, wirkt, wenn sie nicht hervorragend ausgearbeitet ist, schnell eindimensional. Immer wenn die Lesenden und auch die Hauptfigur glauben, dass sich nun endlich die Lösung des/eines Konflikts anbahnt, wendet sich das Blatt und es geschieht etwas, das die Lösung in weite Ferne rückt oder sogar „vernichtet“.
Spannung
Zusätzlich zu der sich aus den Konflikten (Konfliktspannung) und den Wendepunkten ergebenden Handlungs-, Entscheidungs-, Situations-, Erwartungs- und Aufklärungsspannung werden spannungssteigernde Methoden (z. B. Cliffhanger, Rätsel, falsche Fährten etc.) verwendet. Spannung ist für jedes Genre unerlässlich. Eine Handlung ohne Spannung ist langweilig. (Mehr dazu in einem späteren Beitrag.)
Stringente Handlungsabläufe
Alle Handlungen a) bauen aufeinander auf = jede ergibt sich zwingend als logische Konsequenz aus einer vorherigen Handlung oder bereitet eine folgende vor. b) Sie werden „schnörkellos“ erzählt = ohne Abschweifungen, die mit der Handlung nichts zu tun haben. Beispiel: Verliebt sich die Heldin am Arbeitsplatz in einen Kollegen, ist völlig unwichtig, wie und wann sie diesen Arbeitsplatz in der Vergangenheit bekommen hat oder wie das Bewerbungsgespräch dafür verlief. Und sofern diese Liebe nicht das zentrale Thema des Romans ist, darf sie auf keinen Fall die Haupthandlung stören. Solche Nebenthemen werden in retardierenden Momenten platziert, in denen die Spannung bewusst zurückgefahren wird (aber niemals vollständig zum Erliegen kommen sollte).
Zu diesen Hauptzutaten benötigt man noch die folgenden „Gewürze“:
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- „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Autorinnen/Autoren müssen zwar alles wissen, was im Roman passiert und vor allem, was die Figuren denken, tun, ihre Vorgeschichte, ihren Lebenslauf kennen – aber auf keinen Fall dürfen sie das alles den Lesenden verraten! Zu viele Informationen verschleppen die Handlung, besonders wenn sie keine Relevanz zum Geschehen haben. Stehen sie obendrein an der „falschen“ Stelle, wirken sie sinnlos und können, wenn dadurch zu viel verraten wird, die Spannung „ermorden“; im schlimmsten Fall sogar für den gesamten restlichen Roman.
- Beschreibungen: Gute Beschreibungen machen den Text lebendig, verleihen ihm Tiefe und helfen den Lesenden, in die Handlung einzutauchen, die Gegend gefühlt „mit eigenen Augen zu sehen“, mit den Hauptfiguren zu fühlen. Dementsprechend werden sie so gestaltet, dass sie Bilder in die Köpfe der Lesenden malen (das „Kopfkino“ ankurbeln). NIEMALS werden die Eigenschaften oder das Aussehen von Figuren aufgezählt wie in einem Steckbrief (Ausnahme: Täter- oder Opferbeschreibungen bei der Polizei o. ä.). Besonders die Gefühle der Figuren müssen anschaulich gezeigt werden. Unter „sie/er sah umwerfend aus“ kann sich niemand etwas Konkretes vorstellen.
Wichtig:
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- Beschreibungen (Personen, Landschaft etc.) sollten in eine aktive Handlung oder einen Dialog eingebettet werden! Niemals dürfen sie (außer Täterbeschreibung) als aneinandergereihte Aufzählung von Eigenschaft/Aussehen oder gar steckbriefartig daherkommen.
- Beschreibungen stehen immer nur dort, wo sie zum Verständnis der Handlung, zur Charakterisierung einer Person oder einer Landschaft zwingend erforderlich sind. Und sie beschreiben auch nur so viel, wie für eben diesen Handlungsteil notwendig (!) ist. Eine komplette Beschreibung in allen Details kann, FALLS sie erforderlich ist, über den ganzen Roman verteilt häppchenweise erfolgen.
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- Die Logik. Alles, was man (be)schreibt – sei es ein Sachverhalt, das Verhalten einer Person, eine Reaktion, eine (juristische oder andere) Folge einer Tat etc. – muss logisch nachvollziehbar und folgerichtig und selbstverständlich auch sachlich korrekt sein. Logische Brüche dürfen nicht vorkommen, auch nicht im Kleinen. Beispiel: Wenn jemand den Kopf nach links gedreht hat, kann er nicht sehen, was sich rechts von ihm abspielt.
Mit diesen Zutaten und Gewürzen kochen wir das Süppchen oder grillen den saftigen Braten der Geschichte:
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- Die Hauptfiguren (positive und negative) werden eingeführt.
- Der Konflikt zwischen ihnen wird angedeutet, klar thematisiert oder Stück für Stück entwickelt. (Evt. auch erst sehr viel später, das hängt vom Gesamtaufbau der Handlung ab.)
- Konfliktsteigerung = der Konflikt verschärft sich über die gesamte Handlung hinweg bis zum Höhepunkt („Showdown“).
- Weitere Personen werden eingeführt, sofern sie für die Handlung wichtig sind. Auf Personen, die nichts zur Fortführung, Weiterentwicklung der Handlung oder durch Interaktion, Dialog zur wichtigen (!) Charakterisierung einer Person beitragen, sind überflüssig.
- Unerwartete Ereignisse und Rückschläge verzögern immer wieder die Konfliktlösung oder lassen die Protagonistin/den Protagonisten zwischenzeitlich sogar scheitern. Bei Krimis sind das unter anderem falsche Fährten und/oder Sackgassen in den Ermittlungen.
- Daraus entstehen weitere Konflikte, die aber immer mit dem Hauptkonflikt bzw. der Hauptperson direkt oder indirekt zusammenhängen sollten.
- Die Lösung wird vorbereitet. (Beim Krimi: Der entscheidende Hinweis auf den Täter taucht auf.)
- „Showdown“ = der Konflikt wird möglichst spannend gelöst.
- Schluss: Alle Handlungsstränge werden logisch konsequent aufgelöst, alle noch offenen Fragen geklärt.
Soweit das grobe Gerüst. Die folgenden Punkte kann man beliebig variieren. Nichts ist in Stein gemeißelt.
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- Man kann die Geschichte mit dem Erlebnis einer (vielleicht sogar nur dieses eine Mal auftauchenden) Nebenfigur oder der Antagonistin/des Antagonisten beginnen.
- Man kann Heldin und Held erst im zweiten oder dritten Kapitel einführen, wenn man die Geschichte chronologisch erzählen und diese Figur dementsprechend erst später auftauchen lassen will (abhängig von der gesamten geplanten Handlung).
- Man kann den Konflikt schon „vor“ dem Einsetzen der Handlung der Geschichte, des Romans entstehen lassen oder ihn bis zur Mitte oder noch später (auch abhängig von der Gesamthandlung) nur subtil andeuten oder ihn erst gegen Ende offenbaren. Das funktioniert besonders gut, wenn man während des Rests der Geschichte immer wieder thematisiert (zeigen, nicht erzählen!), dass da „etwas nicht stimmt“ zwischen den beiden Hauptfiguren, weil sie sich anfeinden, angiften, subtil oder offen mobben, einander sabotieren und dergleichen mehr. Die Offenbarung des eigentlichen Konflikts, dem diese Handlungen zugrunde liegen, kann man erst kurz vor oder während des „Showdowns“ geschehen lassen.
- Man kann mit dem Ende der Geschichte beginnen und den „Weg“ dorthin rückblickend beschreiben.
- Man kann ein „Kammerspiel“ schreiben, für das man nur zwei oder drei Personen benötigt und das in nur einem einzigen Raum oder Haus stattfindet. (Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Edward Albees Theaterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, das mit nur vier Personen in einem einzigen Raum stattfindet.)
- Zwei Hauptkonflikte können parallel (und kapitelweise abwechselnd) erzählt werden, was dann auch für die sich aus ihnen ergebenden Nebenkonflikte gilt.
- Die Lösung des Konflikts kann schon am Anfang feststehen und auch genannt werden, aber ihre Durchführung kann durch immer neue auftretende Komplikationen oder auch nur eine einzige „gigantische“ Verwicklung bis zum Ende der Story verzögert werden. Ein Beispiel aus dem Fantasybereich: Im „Herr der Ringe“ steht schon recht früh fest, dass die Lösung des Konflikts = die Vernichtung des Dunklen Herrschers Sauron nur durch die Zerstörung des „Einen Rings“ geschehen kann. Doch der Weg zu eben dieser Zerstörung füllt noch zweieinhalb weitere Bücher bzw. ca. drei Viertel bis vier Fünftel der gesamten Geschichte, weil immer neue Hindernisse, Komplikationen und Feinde auftauchen, die eben das verhindern wollen.
- Das Ende kann offen bleiben oder die Konfliktlösung nur angedeutet werden und „jenseits des Buchdeckels“ stattfinden.
In der nächsten Folge gehen wir ins Detail und sehen uns die Bedeutung der einzelnen Stadien genau an.