Von der Kunst des Prosaschreibens – 23. Show, don’t tell! – Spannungserzeugung 3
von Mara Laue
20 Methoden der Spannungssteigerung – Teil 1
Um die Spannung zu forcieren oder in unspektakulären Situationen welche zu erzeugen, können folgende Methoden angewendet werden.
(1) Die Bedrohung
Dies ist die einfachste Methode der Spannungserzeugung und gehört meistens zur Handlungsspannung. Hierbei setzen wir die Hauptfigur oder eine andere Figur einer Bedrohung aus, sei sie real oder eingebildet. Lassen wir sie z. B. von einem Unbekannten verfolgen (oder sie glaubt sich verfolgt) oder in die Hände ihrer Feinde fallen. Lassen wir sie und von allem die Lesenden wissen, dass ein Killer, ein Dämon, die Polizei hinter ihr her ist. Der Intrigant in der Firma stellt ihr eine Falle, die sie ihren Job und vielleicht auch das Leben kosten soll. Eine Denunziation bedroht ihre Freiheit, die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft bringt sie auf die Abschussliste eines totalitären Regimes oder einer Gruppe Neonazis. Kletterei im steilen Felshang – und rapide nähert sich ein Sturm oder Gewitter, was den Trip lebensgefährlich macht. Und der im Wandschrank versteckte Einbrecher zückt das Messer, als sie sich dem Schrank nähert. Die Möglichkeiten sind fast unerschöpflich.
Unsichtbare oder scheinbare Bedrohungen sind z. B. Albträume, von denen weder die Person noch die Lesenden wissen, ob sie wirklich nur üble Träume oder prophetische Voraussagen oder vielleicht doch Realität sind. Oder paranoide Anwandlungen – begründete oder eingebildete Angst – lassen die Hauptperson hinter jedem Baum einen Attentäter, in allen Menschen, die ihr Hilfe anbietet, Räuber oder Entführer oder sonstige Bösewichte vermuten. Anrufe, bei denen sich niemand meldet, anonyme Drohbriefe/-mails oder die beliebte tote Ratte vor der Haustür gehören auch in diese Kategorie.
Die Bedrohung ist eines der wenigen Spannungsmittel, das wir unbegrenzt oft verwenden können. Die meisten anderen nutzen sich durch mehrmaligen Gebrauch ab = werden vorhersehbar und dadurch unspannend, aber Bedrohungen können immer wieder verwendet werden. Einzige Voraussetzung: Wir sollten jedes Mal eine andere Art der Bedrohung wählen. Wenn wir z. B. bei jedem längeren Aufenthalt im Freien einen Gewittersturm oder andere naturgegebene „Katastrophen“ auffahren, wird das schnell langweilig.
(2) Haken schlagen
Diese Technik wird auch als „Plotpoints“ (Wendepunkte) bezeichnet. Sie ist einfach, aber wirkungsvoll. Zusätzlich zu den „traditionellen Pflicht-Plotpoints“ – Nr. 1, wenn die Handlung Fahrt aufnimmt und richtig in Gang kommt und Nr. 2, wenn durch den Plotpoint die Lösung der Geschichte vorbereitet wird – können wir je nach Länge der Story/des Romans beliebig viele Plotpoints verwenden. Lassen wir die Handlung Haken schlagen wie ein Hase! Bringen wir immer wieder unerwartete Wendungen hinein. Geben wir ihr eine Richtung, die die Lesenden nicht vermuten und demnach auch nicht vorausgeahnt haben.
Hierbei müssen wir nur beachten, dass die Haken immer glaubhaft sind und gut (das heißt logisch nachvollziehbar) begründet werden. Nur wenige „Sünden“ wirken tödlicher auf die Spannung als an den Haaren herbeigezogene Wendungen oder wenn sie durch Zufälle passend gemacht werden. Ein Zufall darf zwar gern der Ausgangspunkt einer Geschichte sein (zum Beispiel ein verpasster Zug oder ein im Büro vergessenes Handy), aber sobald die Handlung einmal in Gang gesetzt wurde, MUSS sie sich ab diesem Punkt logisch nachvollziehbar und konsequent entwickeln.
BEISPIEL KRIMI:
Die Polizei hat einen Verdächtigen ermittelt und will ihn verhaften. Der flieht, was seine Schuld scheinbar bestätigt. Kurz bevor die Polizei ihn erwischt, erhält sie aber einen Hinweis, der stark auf jemand anderen als Täter hindeutet, sodass Polizei und Lesende überzeugt sind, dass diese Person der wahre Täter sein muss. Soweit wäre das noch nichts Besonderes, denn in jedem guten Krimi gibt es mindestens eine zu Unrecht verdächtigte Person. Aber jetzt: Die Ermittlungen ergeben zunächst, dass der neue mutmaßliche Täter unschuldig ist. Zusätzlich gibt es Hinweise auf eine weitere verdächtige Person. Wieder sieht es so aus, dass diese nun endlich der/die Schuldige ist. Und dann das absolut Unerwartete: Am Ende entpuppt sich der geflohene erste Verdächtige, den längst alle für unschuldig halten, doch als der echte Täter. – Spannung pur!
BEISPIEL LIEBESROMAN:
Liebesromane leben von Konflikten, Missverständnissen und Intrigen. Derjenige/diejenige, der/die das Glück der Verliebten zu hintertreiben droht, ist – genretypisch – immer die Anti-Person, die am Ende verliert. Bauen wir z. B. die Intrigen dieser Figur so auf, dass er (hier ein Mann) die Geliebte seines Bruders ständig davon abzubringen versucht, den Bruder zu heiraten. Alles wirkt wie Neid und Eifersucht, weil der Intrigant die Frau für sich haben möchte. Schließlich scheitert er endgültig und muss aufgeben. So weit, so „normal“ für einen spannenden Liebesroman. Heirat der Liebenden, Hochzeitsreise, Happy End. – Wirklich?
Aber jetzt: Gerade als dem Glück der Liebenden nichts mehr im Weg steht, geschieht etwas, das der Frau bestätigt, dass der vermeintliche Intrigant Recht hatte mit seinen Warnungen vor ihrem Geliebten. Der (bisher der positive Protagonist) ist der wahre Schurke und nur hinter dem Geld der Frau her. Damit rechnet (fast) niemand. Nachdem er nun mit ihr verheiratet und erbberechtigt ist, versucht er sie zu töten. Zum Glück hat sein Bruder (der scheinbare Intrigant) die beiden nicht aus den Augen gelassen und kann das Schlimmste verhindern. Hier erwarten die Lesenden nun, dass aus den beiden ein Paar wird, nachdem die Frau den Schock über den Verrat des Geliebten verdaut hat. Wieder könnte man die Spannung steigern, indem man diese Erwartung enttäuscht und die beiden nur Freunde werden lässt (ein Happy End darf/sollte aber angedeutet werden; das gehört zum Genre). – Spannung pur!
BEISPIEL (urban) FANTASYROMAN:
Ein Vampir- oder Werwolf- oder Dämonenjäger, der in dem Ruf steht, unerbittlich und gnadenlos zu sein, jagt eine Person aus seinem Beuteschema und setzt alles daran, sie oder ihn zur Strecke zu bringen. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden ist allein schon pure Spannung. Natürlich gehen alle Lesenden davon aus, dass der Jäger die böse Kreatur irgendwann erwischt und tötet.
Aber jetzt: Als die beiden sich schließlich gegenüberstehen und die Lesenden den Showdown erwarten, an dessen Ende die Kreatur auf der Strecke bleibt – da fallen sich beide in die Arme und zeigen sich glücklich, einander endlich gefunden zu haben. Hier sind mehrere Gründe dafür denkbar, z. B. dass sie Geschwister sind oder Liebende und nur einer von ihnen verwandelt wurde und abtauchte. Worauf der andere nur deshalb zum Jäger wurde, um ihn/sie zu finden und vor den wahren Jägern in Sicherheit zu bringen. Da der/die Gejagte das nicht wusste, glaubte er/sie ernsthaft, dass der Jäger ihn/sie tatsächlich töten wollte und ist nur deshalb vor ihm geflohen.
Nun geht aber die Jagd erst richtig los, denn jetzt werden beide von den anderen Jägern verfolgt. Schaffen sie es zu entkommen? Schaffen sie es nicht? Schafft es nur einer? Und am Ende kommt wieder alles anders, denn es gelingt den Kreaturen, einen Waffenstillstand mit ihren Verfolgern zu schließen. Damit rechnen die Lesenden eher nicht. – Spannung pur!
Lassen wir also die Handlung unseres Plots ruhig eine Reihe solcher Wendungen nehmen und Haken schlagen, mit denen die Lesenden nicht rechnen. Wichtig ist nur, dass wir dabei immer glaubhaft bleiben, keine Zufälle zu Hilfe nehmen und die Zahl dieser Wendungen nicht so sehr übertreiben, dass die Lesenden nicht mehr durch die Handlung steigen können. Dann haben wir einen vor Spannung knisternden Roman, eine spannende Geschichte.
(3) Das abrupte Umblenden oder der „Cliffhanger“
Tara presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und lauschte. Sie hörte nichts außer ihrem Herzschlag, ihrem heftigen Atmen und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Die Schritte des Flüchtenden waren verstummt. Sie warf einen schnellen Blick um die Ecke und riss den Kopf sofort zurück. Nichts geschah. Der kurze Moment hatte aber ausgereicht, um zu sehen, dass der Gang leer war. Und er bot keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Tara warf einen weiteren Blick um die Ecke – und blickte direkt in die Mündung von Bakers Revolver. Bevor sie sich von der Überraschung erholt hatte, dass er sich völlig lautlos hatte anschleichen können, drückte er ab, ein triumphierendes Grinsen im Gesicht.
*
Juri zuckte zusammen, als Elena schon wieder lachte, laut und schrill in einer Tonlage, die ihm verdächtig nach dem Schmerzensschrei einer Katze klang, der man auf den Schwanz trat. Warum nur hatte er sich breitschlagen lassen, zu dieser Party zu gehen? (…)
Und wir Lesenden hängen wie die soeben abgefeuerte Kugel in der Luft und müssen uns mehrere Szenen oder sogar ein ganzes Kapitel lang mit der Frage quälen, was denn nun mit Tara passiert. Wird sie getroffen, vielleicht sogar erschossen? Schwer verletzt? Oder kann sie sich retten?
Eine Szene, ein Kapitel mit einem abrupten Umblenden zu einer ganz anderen Szene zu unterbrechen (auch „Cliffhanger“ = „Klippenhänger“ genannt), ist das gängigste Mittel, um Spannung zu erzeugen. Die Szene wird hier nicht beendet, sondern zerteilt, und wie die zwei Brotscheiben eines Sandwiches um eine neue Szene herum drapiert. Wenn wir den richtigen Augenblick zum Umblenden gewählt haben, dann werden die Lesenden noch eifriger weiterlesen, den Roman/die Story „verschlingen“, um möglichst schnell zu dem Punkt zu kommen, an dem die erste Szene weitergeht. Spannung pur!
Wichtig fürs Funktionieren des Cliffhangers ist lediglich, dass das Umblenden in einem Moment erfolgt, als bereits Spannung existiert bzw. sie ihren/einen Höhepunkt erreicht hat. Wäre die obige Szene mit Tara mit ihrem Blick um die Ecke und der Erkenntnis „Gang frei“ beendet worden, wäre das kein Cliffhanger, weil die Spannung an dem Punkt nicht mehr/noch nicht (wieder) existiert.
(4) Der Gruseleffekt
Auch außerhalb von Grusel-/Horrorgeschichten können wir in deren Trickkiste greifen, um Spannung zu erzeugen oder sie zu steigern. Das Gruseln ergibt sich aus bzw. in bestimmten Situationen. Zum Beispiel wird von vielen Menschen ein Aufenthalt in einer Ausstellung fratzenhafter Masken als unheimlich = gruselig, weil angstmachend empfunden, selbst wenn alles hell erleuchtet ist. Fällt dann aber das Licht aus, setzt bei vielen die irrationale Angst ein, dass die Masken lebendig werden könnten oder dass an den sie umgebenden Geschichten von Flüchen, in ihnen wohnenden Geistern etc. doch etwas Wahres sein könnte und die nun in der Dunkelheit lebendig werden.
Auch wenn sich gleich darauf herausstellt, dass die eifersüchtige Intrigantin ihrer Konkurrentin nur einen Schrecken einjagen wollte, entsteht erst einmal Spannung, weil die Lesenden nicht abschätzen können, was als Nächstes kommt oder welchen Hintergrund der Stromausfall hat. Ist er harmlos oder hat jemand hinterhältig das Licht ausgeschaltet, um in der Dunkelheit Böses zu tun?
Unabhängig von solchen äußeren Dingen wird der Gruseleffekt durch das Spiel mit menschlichen Ängsten erzeugt: die Begegnung mit etwas Unbegreiflichem, von etwas/jemand Bedrohlichem verfolgt zu werden, eine Bedrohung, die man spürt, aber nicht sieht, Kontrollverlust (Ohnmachtgefühl), einem Feind ausgeliefert zu sein oder das Gefühl, den eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen zu können. Eben hat die Hauptperson ihren Schlüssel auf den Garderobentisch gelegt – jetzt ist er weg! Wer hat ihn weggenommen, obwohl niemand außer ihr im Haus ist? Oder hat sie ihn ganz in Gedanken doch anderswo hingelegt? Windstille – aber im Gebüsch neben der Terrasse raschelt es = nur ein Kaninchen oder der Stalker, der dem Helden gedroht hat, ihn zu töten?
Offenes Fenster bzw. Übergardinen offen, alles friedlich, aber plötzlich hat der Mensch in der Wohnung das Gefühl, beobachtet zu werden; geht ans Fenster, schaut nach draußen in die Dunkelheit – Spannung: Was passiert als Nächstes? Schießt jemand aus dem Hinterhalt? Oder hat er sich das nur eingebildet? Er sieht nichts, aber bestimmt ist da was! Oder doch nicht? So oder so, der Abend ist für ihn gelaufen, weil die Anspannung und die Angst ihn nicht mehr loslassen.
Unerklärliche Geräusche, seltsame Lichtreflexe, deren Ursache nicht zu erkennen sind, erzeugen zunächst einmal Unsicherheit in den Leuten, die sie wahrnehmen, und danach Angst, wenn sich das Rätsel um die Ursache nicht lösen lässt. Und die Lesenden rätseln mit den Figuren: Was liegt diesen gruseligen Dingen zugrunde? Alles, was als unheimlich empfunden wird, ist in der Literatur auch immer spannend.
(5) Unverhofft kommt oft
Jenny hatte bereits Seitenstiche und wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Sie konnte Hugh unmöglich entkommen, indem sie weiterhin vor ihm davonlief. Immerhin hatte sie einen kleinen Vorsprung, den sie nutzen musste. Links öffnete sich eine Schneise, an dessen Rand ein Stapel Baumstämme lagerte. Kein sehr originelles Versteck, aber besser als nichts. Jenny brachte sich hinter dem Stapel außer Sicht und quetschte sich in eine Lücke zwischen den Stämmen, die breit genug für sie war, wenn sie sich ganz klein machte. Hastige Schritte näherten sich ihr. Blieben stehen. Gingen um den Holzstapel herum und kamen genau auf ihr Versteck zu. Jenny unterdrückte ein Wimmern, als zwischen den Lücken der Stämme, die Beine ihres Verfolgers in Sicht kamen, der genau auf sie zuhielt. Im nächsten Moment hatte er sie entdeckt und griff nach ihr.
„Jenny, was machst du denn hier?“, fragte BILL verblüfft und zog sie unter den Stämmen hervor. „Und wieso rennst du wie von Furien gehetzt durch den Wald?“
Ätsch, reingefallen! Nicht wahr, man hat gedacht, dass derjenige, der Jenny gefunden hat und ans Licht zerrt, der böse Hugh ist, vor dem sie flieht und der ihr gleich den Garaus machen will. Und nun ist es der nette Bill. Doch wo steckt Hugh?
Bei diesem Stilmittel wird die Spannung dadurch erzeugt, dass die Lesenden etwas ganz Bestimmtes erwarten und diese Erwartung enttäuscht wird. Die Enttäuschung wird allerdings nur dann als angenehm empfunden und den Autorinnen/Autoren nicht übel genommen, wenn sie sich als spannender erweist, als es die enttäuschte Erwartung gewesen wäre. In dieser Story entpuppt sich Bill als Komplize von Hugh, der ihm Jenny ausliefert, als sie sich in Sicherheit wähnt.
Eine Variante dieses Spannungsmittels ist die Aneinanderreihung von maximal drei solcher Enttäuschungen. Beim dritten Mal denken die Lesenden, es könnte wieder nur falscher Alarm sein, doch gerade dann schlägt das Unheil zu.
Leona spürte einen kalten Luftzug und blickte zur Terrassentür. Sie stand offen, und die Chiffongardine bewegte sich im Herbstwind. Der Schreck durchfuhr sie wie eine kalte Messerklinge. Sie hatte die Terrassentür zugemacht und abgeschlossen, bevor sie gegangen war. Dessen war sie sicher, denn sie hatte alle Türen und Fenster kontrolliert, ehe sie das Haus verlassen hatte. Dass sie jetzt offenstand, konnte nur bedeuten, dass der Stalker nicht nur sie, sondern auch einen Weg gefunden hatte, in ihr Haus einzudringen.
Sie widerstand dem Impuls zu fliehen und auch dem, die Terrassentür zu schließen. Der Mann war offenbar schon im
Haus; da machte es wenig Sinn, die Tür zuzumachen. Außerdem würde das Geräusch der Schiebetür ihm verraten, wo Leona sich befand. Möglicherweise brauchte sie die offene Tür auch als Fluchtweg. Flucht kam für sie jedoch als letzte Möglichkeit in Betracht. Sie war ausgebildete Personenschützerin und rannte nicht vor einem Stalker davon. Aber es konnte nicht schaden, die Polizei zu rufen.
Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche. Bevor sie die erste Taste gedrückt hatte, hörte sie ein Geräusch. Ein heiseres Kichern, das eindeutig aus der Küche kam, gefolgt von einem Flüstern. „Leona“, wisperte die Stimme in einschmeichelndem Tonfall. „Ich schnappe dich gleich.“
Der Kerl hatte Nerven! Aber die hatte Leona auch. Sie schlich zum Durchgang zur Küche. Der dicke Teppich unter ihren Füßen dämpfte ihre Schritte, und das Mondlicht, das durch die Glasfront der Terrasse hereinfiel, reichte nicht bis zu dem Bereich des Zimmers, in dem sie sich befand. Sie erreichte unbemerkt die Wand neben dem Durchgang, drückte sich mit dem Rücken dagegen und hob die Hand zum tödlichen Handkantenschlag. Sie hörte den Atem des Mannes, als er näherkam und wieder dieses unheimliche Kichern ausstieß. Leona würde dafür sorgen, dass ihm das verging.
Er sprang vorwärts, wobei er einen lauten Schrei ausstieß. Leona schlug zu – und erkannte im letzten Moment Jimmys Silhouette. Statt des tödlichen Schlages versetzte sie ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn zurücktaumeln ließ, und schaltete das Licht ein.
„Idiot!“, beschied sie ihm, als er sich stöhnend die Stelle auf der Brust rieb, wo sie ihn getroffen hatte. „Ich hätte dich beinahe umgebracht. Wie bist du überhaupt reingekommen?“
„War doch nur ein Scherz.“ Das klang vorwurfsvoll. „Außerdem hattest du mir deinen Zweitschlüssel gegeben. Schon vergessen? Ich wollte dich überraschen und was Gutes kochen. Ich dachte nicht, dass du so früh zurück bist.“
Sie atmete tief durch, ging zur Terrassentür und schloss sie. „Ich hätte beinahe die Polizei gerufen. Danach hätte ich dich fertiggemacht. Tu so was nie wieder, ja?“
Er hob abwehrend die Hände und blickte sie befremdet an. „Okay, das mit dem Erschrecken war wirklich eine dumme Idee“, gab er zu. „Ich mach’s wieder gut. Soll ich uns nun was kochen?“
„Das wäre lieb.“ Sie lächelte versöhnlich, obwohl ihr Herz immer noch recht schnell schlug. „Ich springe nur schnell unter die Dusche.“
Sie ging ins Badezimmer und stellte das Duschwasser so heiß ein, wie sie es aushalten konnte. Der Schreck war ihr ganz schön in die Glieder gefahren. Sie wagte nicht, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn sie Jimmy nicht noch rechtzeitig erkannt hätte. Vielleicht hätte sie ihn nicht gerade umgebracht, aber wahrscheinlich schwer verletzt. Sie sollte die Beziehung zu ihm auf Eis legen, bis der Stalker gefasst war. Vorher hatte sie den Kopf nicht frei für romantische Abende und Essen zu zweit.
Als sie das Wasser abstellte und nach dem Handtuch angelte, sah sie im Spiegel, wie die Tür langsam aufgeschoben wurde. Verdammt! Der Stalker war durch die offene Terrassentür ins Haus gekommen, während Jimmy in der Küche gewesen war! Leona wickelte sich das Handtuch um den Körper, knotete es fest, sprang zur Tür und riss sie auf, die Faust zum Zuschlagen erhoben.
Jimmy stolperte ihr entgegen und wäre fast gefallen. „Hey!“, protestierte er.
Sie funkelte ihn wütend an. „Du verdammter Kindskopf!“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ebenfalls nur mit einem Handtuch bekleidet war.
Er grinste entschuldigend. Es wirkte nicht sehr intelligent. „Ich dacht, wir ziehen das ‚Dessert’ vor.“
„Und deshalb schleichst du dich an wie ein Dieb?“ Sie wich zurück, als er sie umarmen wollte. „Ich bin nicht in der Stimmung. Falls du es noch nicht begriffen haben solltest: Ich habe einen Stalker am Hals. Und bevor ich den Kerl nicht los bin, habe ich keinen Nerv für solche Spielchen.“
Er blickte sie verletzt an. „Vielleicht sollte ich dann besser gehen.“ Das klang richtig beleidigt.
Leona hielt das trotzdem für eine fantastische Idee. „Nichts für ungut, Jimmy, aber ja, das ist wohl das Beste. Für heute. Wir holen das romantische Dinner nach, wenn diese Sache ausgestanden ist. Okay?“
Er nickte und verließ mit hängenden Schultern das Bad.
Leona trocknete sich ab, cremte sich ein und zog sich an. Als sie das Bad verließ, hörte sie in der Küche Geschirr klirrend auf dem Boden zerbrechen. Sie seufzte. Jimmy war wirklich hartnäckig. Wahrscheinlich hoffte er, dass seine unübertrefflichen Spaghetti Napoli sie auf andere Gedanken bringen würden und er doch noch zu seinem „Dessert“ käme. Offenbar musste sie deutlicher werden, damit er ein Nein kapierte. Sie ging zur Küche.
„Jimmy ich dachte, wir wären uns einig, dass du …“
Sie starrte ihn an. Jimmy saß kreidebleich am Tisch, die Augen aufgerissen, und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit einer Ledermaske über dem Kopf hielt Ihm eins von Leonas Tranchiermessern an die Kehle. Aus der Haut am Hals quoll bereits Blut.
An diesem Beispiel sehen wir, wie man die Lesenden dazu bringen kann zu glauben, sie wüssten oder ahnten, was als Nächstes passiert, aber dann kommt es doch ganz anders. Allerdings gibt es auch erfahrene Lesende, die diese Technik der Spannungserzeugung durchschauen und deshalb nicht darauf hereinfallen. Nicht nur aus diesem Grund sollten wir für die Spannungserzeugung alle Register ziehen, die uns zur Verfügung stehen.
Wie schon gesagt, muss man bei diesem Stilmittel darauf achten, dass man die Erwartung nicht mehr als dreimal hintereinander enttäuscht, sonst wird es langweilig und die Lesenden sind sauer. Außerdem sollte man eine solche Sequenz in einer Story/einem Roman nur ein einziges Mal als Spannungselement einbauen, sonst nutzt es sich ab und verfehlt beim zweiten Mal seine Wirkung. Schließlich haben wir noch andere Mittel, um unser Publikum auf die Folter zu spannen.
In der nächsten Folge:
20 Methoden der Spannungssteigerung Teil 2
In weiteren Folgen:
20 Methoden der Spannungssteigerung (Teile 3+4)
Spannung erhalten und retardierendes Moment
Besonderheiten in Actionszenen
Hallo, Mara,
hähä, wunderschöne Beispiele! Mit großem Genuss habe ich auch diese Abhandlung gelesen. Deb Grundspannungsbögen noch eins draufzusetzen, ist die richtige Kunst des kreativen Schreibens. Beim Cliffhanger hat mir ein kleiner Hinweis gefehlt, nämlich, dass der Kunstgriff nur dann funktioniert, wenn die Handlung nicht linear, sondern zumindest ansatzweise komplex ist. Ansonsten wäre es einfach das Ende einer Szene. Auf jeden Fall ist die Bedeutung des Cliffhangers ein guter Anreiz, den Roman so zu plotten, dass dieses Mittel möglich und sinnvoll sind. Beim ersten Entwurf meines ersten Romanmanuskripts hatte ich diesbezüglich gleich zwei Fehler gemacht: Die Handlung war sehr linear und wurde nur durch nachträglich eingebaute Perspektivwechsel so vielschichtig, dass Cliffhanger erst möglich wurden. Mein zweiter Fehler war, möglichst alle Szenen – zumindest alle Kapitel – harmonisch zu beenden. Die späte Erinnerung, das es Cliffhanger überhaupt gibt, führte konsequenterweise zu einer vollständig neuen Romanstruktur und einer arbeitsintensiven Überarbeitung.
Der Ratschlag kommt für mich etwas spät – aber die Reihe ist ja nicht nur fü mich geschrieben. 😉
Viele Grüße
Michael Kothe