Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – 6. Salz in der Suppe 2 oder: Die Originalität

Tipps von Mara Laue

Bei durchschnittlich zwischen 7000 und 8000 Neuerscheinungen jeden Monat allein auf dem deutschen Buchmarkt und Hunderttausenden weltweit gibt es nahezu nichts, was nicht schon in irgendeiner Form irgendwann einmal geschrieben worden ist. Es ist also wenig sinnvoll, weil für die Lesenden uninteressant, wenn unsere Geschichten/Romane der 1003. Aufguss von „Harry Potter“ wären, um ein bekanntes Beispiel zu nennen. Man sollte also unbedingt vermeiden, noch eine weitere derartige Story zu schreiben. Es sei denn, man schriebe sie nur für sich selbst. Oder es gelänge einem, die Story so aufzuarbeiten, dass trotz des bekannten Grundmusters etwas Neues dabei herauskommt. (Kristin und P.C. Cast ist das zum Beispiel mit ihrer Serie „House of Night“ hervorragend gelungen, in der es um die Vorkommnisse in einem Internat für Vampire geht.)

Auch das Thema des „Bäumchen, wechsle dich!“, in dem es um das Verwechslungspotenzial von eineiigen Zwillingen geht, ist schon so oft in verschiedenen Genres verarbeitet worden (meistens in Krimis oder Liebesromanen), dass die Lesenden sofort wissen, dass sie es mit einer Verwechslungsstory zu tun bekommen, sobald irgendwo Zwillinge auftauchen. In einem Krimi ist auch die Variante beliebt, dass die Zwillinge gemeinsame Sache machen. Zunächst tritt das Rätsel auf, wie es einer Person gelingen konnte, scheinbar zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten zu sein. Sobald das Ermittlungsteam und die Lesenden erfahren, dass der/die Verdächtige einen Zwilling hat, ist offensichtlich, dass sie beide unter einer Decke stecken. Für erfahrene Lesende ist bereits absehbar, dass es einen Zwilling geben muss, sobald in so einem Plot die Überlegung auftaucht, dass eine Person nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann. (Beim Krimi ist es in der Regel ein verschollener Zwilling, der als Kind weggegeben wurde, sodass er nicht denselben Nachnamen wie der/die andere trägt und die Verwandtschaft nichts von ihm weiß.) Bei diesem Beispiel wäre es originell, wenn das Verwechslungsspiel mit den Zwillingen eine falsche Fährte wäre und keiner von beiden die Tat begangen hat oder überhaupt an dem Verwirrspiel schuldig wäre. Ebenfalls originell wäre (abhängig vom Genre und Plot), wenn es gar keinen Zwilling gäbe, sondern eine Person nur eine Doppelrolle gespielt hätte.

Soll sich ein scheinbarer Mord als Unfall entpuppen, sollte man auf gar keinen Fall das Opfer bei einem handgreiflichen Streit mit dem Kopf auf eine harte (Tisch-/Kamin-/Mauer-)Kante oder einen Stein fallen lassen, der zuuufällig genau in der Sturzbahn liegt, und daran sterben. Diese Unfallmethode ist in Krimis schon derart ausgelutscht worden, dass sie Lesenden nur noch ein gelangweiltes Gähnen entlockt. Außerdem bricht der Schädelknochen nicht so schnell. Rennt ein vor der Polizei oder anderen Leuten Flüchtender Hals über Kopf eine Straße entlang, wird er in gefühlten 99 Prozent aller Krimis garantiert von einem Bus, LKW oder PKW tödlich überfahren. Die ersten Verdächtigen sind in der Regel nie die Schuldigen. Und in hundert Prozent aller Krimis, in denen eine Bombe tickt, wird sie selbstverständlich in den letzten ein bis drei Sekunden entschärft, wenn die Hauptperson in unmittelbarer Nähe ist und andernfalls der Explosion zum Opfer fiele. Spannung geht anders (mehr dazu in einer der nächsten Folgen).

Erbt ein Mann ein Haus im „Hinterwald“ und will es gar nicht haben, bleibt er am Ende garantiert darin wohnen. Trifft er darin oder in der Nachbarschaft eine attraktive Frau, werden die beiden garantiert ein Paar und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Den Rest des Buches braucht man also nicht mehr zu lesen, sobald das geerbte Haus und die attraktive Nachbarin auftauchen. Und selbstverständlich „kriegen“ im Liebesroman sich die beiden, die sich gerade eben kennengelernt haben. – Diese Liste ließe sich gefühlt endlos fortsetzen.

Gute Plots sind anders aufgebaut. Natürlich gibt es auch Lesende, die nicht genug von immer demselben Plot bekommen können, denn Geschmäcker sind nun mal verschieden. Aber wer ein (erstes) Werk – Kurzgeschichte oder Roman – in einem Verlag unterbringen oder im Selfpublishing veröffentlichen will, sollte auf ein Mindestmaß Originalität achten. Originelle Plots haben nicht nur bei den Verlagen erheblich größere Chancen als Allerweltsgeschichten, sondern sie sind ein wichtiger Weg zum Bestseller. Sofern es sich nicht um das x-te, nach demselben Schema gestrickte Werk bereits etablierter Bestsellerschreibenden handelt, werden nur originelle Plots Bestseller (sofern die dazugehörigen Romane auch gut geschrieben sind).

Originalität bedeutet Unvorhersehbarkeit. Die Lesenden dürfen das Ende oder die Entwicklung der Geschichte nicht schon voraussagen können, weil sie Storys mit demselben „Strickmuster“ schon dutzendfach gelesen oder in Filmen gesehen haben. Die Lesenden sollten idealerweise vom Ende beziehungsweise der Auflösung überrascht werden und am besten schon zwischendurch Plotpoints erleben, die der Story eine Richtung geben, mit der sie nicht gerechnet haben. Ein genretypisches Happy End (zum Beispiel bei Liebesromanen) ist dabei ausgenommen. Aber auch das sollte möglichst originell zustande kommen und den Hauptpersonen nicht „nachgeworfen“ werden. Somit ist die Originalität ein wichtiges Element zur Erzeugung von Spannung.

Ein ausgezeichneter Trick, ein originelles Thema zu finden, vielmehr ein bekanntes Thema neu zu verarbeiten, ist, das Bekannte umzukehren und „gegen den Strich zu bürsten“. Ein Beispiel: Märchen, in denen der tapfere Ritter die Prinzessin vor dem Drachen rettet, gibt es zuhauf. Schreiben wir doch eine Geschichte, in der der nette Drache die Prinzessin vor dem bösen Ritter rettet, der sie nur wegen ihres Goldes heiraten will, und schon haben wir etwas Originelles. Mit etwas Fantasie lässt sich auch aus Althergebrachtem etwas Neues, Spannendes kreieren.

Beispiele:

Geschichten und Romane über König Artus gibt es massenhaft. Marion Zimmer Bradley hat in ihrem Bestseller „Die Nebel von Avalon“ den ersten Roman geschrieben, in der die alte Story aus der Perspektive der Frauen erzählt wird. Morgaine Le Fay, die bis dahin stets als böse Intrigantin dargestellt wurde, ist darin eine sympathische, positiv besetzte Protagonistin mit Fehlern, Schwächen, Stärken, guten und falschen Entscheidungen. Prompt wurde das Buch zum Bestseller. Seit Bram Stokers „Dracula“ waren Vampire die Bösewichte, die man jagte und vernichtete. Anne Rice schrieb mit ihrem „Interview mit dem Vampir“ das erste Buch aus der Sicht der Vampire. K. G. Chesterton erfand den vermutlich ersten (Hobby-) Detektiv, der ein Priester ist: „Pater Brown“. Und Harper Lees Weltklassiker „Wer die Nachtigall stört“ wäre nie so erfolgreich geworden, hätte ihr Protagonist Atticus Finch einen Weißen verteidigt und nicht einen Schwarzen.

Bei „Harry Potter“ ist die fantastische Parallelwelt das Originelle, bei Jeffrey Deavers „Lincoln Rhyme“-Romanen, dass der Detektiv ein fast vollständig gelähmter Pflegefall ist. Ohne diesen Twist wären sie ganz normale Thriller. Bei „Warrior Cats“ sind die Figuren Katzen statt Menschen. Lucinda Rileys Heptalogie (Siebenteiler) „Die sieben Schwestern“ wären gewöhnliche Lovestorys, wenn die Protagonistinnen – sieben vom selben Vater adoptierte Kinder – nicht auf der Suche nach ihrer wahren Herkunft wären und sich die Liebe mehr zufällig durch diese Suche nach ihrer Identität ergibt.

Man darf aber Originalität bitte nicht mit Absurdität oder Übertreibung verwechseln! Die Plots müssen immer glaubhaft sein. Die Übertreibung ist der Parodie, der Satire und anderer Humoresken vorbehalten. Originell im literarischen Sinn bedeutet, dass wir uns für unsere Geschichten und Romane Plots einfallen lassen, die nicht schon zigfach von anderen Schreibenden verwendet wurde. Das heißt, der Plot enthält mindestens eine gravierende oder aber mehrere kleinere und/oder größere Abweichungen zu Althergebrachtem, die die Lesenden noch nicht oder nur wenig kennen und deshalb auch nicht erwartet haben.

Ein sehr gutes Beispiel für Originalität finden wir in dem Lied von Reinhard Mey „Der Mörder ist immer der Gärtner“. Darin wird dem Titel gemäß behauptet, dass immer der Gärtner der Mörder sei, doch am Ende stellt sich heraus, dass es der Butler war. Auch wenn das Lied solche Stereotypen auf die Schippe nimmt, so stimmt doch das Prinzip. Originell ist, wenn die Lesenden von der Handlung überrascht werden und nicht schon – etwas überspitzt ausgedrückt – auf Seite 5 wissen, dass sich die beiden Personen, die sich gerade begegnet sind, garantiert ineinander verlieben und zum Schluss ein Happy End haben.

Der Sieben-Verlag schrieb dazu in seinen für seine Autorinnen festgelegten „Richtlinien für Dark Romance“: „Obwohl man ‚das Rad nicht neu erfinden’ kann, sollten doch eigene Wendungen und Überraschungen (im Text) enthalten sein, ein paar neue Ideen (…). Kleinigkeiten reichen oft schon, einen Roman unverwechselbar zu machen. Die Lesenden, die gern Vergleiche anstellen, sollten also später sagen können: Das ist wie … (im Roman XY/der Serie XY), aber doch anders!“

Dieses Andere macht die Originalität aus.

Jedoch gibt es auch für Originalität und Klischees die berühmten Ausnahmen. Diese finden sich in der Zielgruppe, für die wir schreiben wollen. Nicht nur, aber gerade auch in Liebesromanen wünschen sich viele Lesende Romanzen nach althergebrachten Mustern = Klischees. Aschenputtel wird durch die Heirat mit dem Prinzen aufgewertet = selbst zur Prinzessin und später Königin. Das geerbte Haus im Hinterwald mit attraktiver Nachbarin wird die große Liebe des Erben. Der Dunkle Herrscher will die ganze Welt unterjochen („Herr der Ringe“) oder die Galaxis beherrschen („Star Wars“), und ein kleines Häufchen unerschrockener Heldinnen/Helden bietet ihm die Stirn. Und der soeben gerettete Hund bringt die noch unwilligen späteren Liebenden zusammen.

Lesende, die solche Klischees lieben, stehen originellen Innovationen eher skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber. Und nichts spricht dagegen, dass wir diese Klischees bedienen, wenn wir bewusst für diese Zielgruppe(n) schreiben oder wenn uns Innovationen generell nicht liegen. Der Nachteil ist aber, dass Neulinge, die sich erst noch etablieren wollen/müssen, gegenüber den „alten Klischeehäsinnen/-hasen“ nicht so leicht in der Branche Fuß fassen können. Wer eine außergewöhnlich Variante in das jeweilige Klischee einbauen, erhöhen die Chancen auf Veröffentlichung und die Gunst der Publikumsmehrheit.

In der nächsten Folge: Die innere Logik einer Geschichte – ein wichtiges Instrument

3 thoughts on “Von der Kunst des Prosaschreibens – 6. Salz in der Suppe 2 oder: Die Originalität

  1. Liebe Mara,
    mal wieder mit Genuss und mit einem Grinsen im Gesicht habe ich Deine Ratschläge und Beispiele verschlungen. Und: Du hast recht! Freilich ist alles schon mal dagewesen, und die Kunst ist es, die Bestandteile neu zu mischen. So habe ich bei meinem Fantasy-Roman, bei dem ja (Das Klischee lässt grüßen!) die beiden Helden überleben mussten, das ganze Buch über den Leser auf eins von zwei alternative Enden hinfiebern lassen – und, wie ich mir von Anfang an vorgenommen hatte, ihm das dritte präsentiert. Dein Blog hat mich aber eben auch dazu gebracht, bei meinem aktuellen Projekt (Krimi) den ersten Hinweis auf den Täterkreis, der gern weit vorn stehen darf, deutlich weniger konkret zu formulieren. Es braucht eben häufig mal einen Denkanstoß. Danke dafür!
    Michael Kothe

    1. Lieber Michael Kothe,
      danke fürs Lesen und Kommentieren. Es freut uns, wenn der Blog Autor*innen bei ihrer Arbeit helfen kann. Wir werden den Kommentar an Mara Laue weitergeben.
      In der kommmenden Print-Ausgabe besprechen wir ihren Schreibratgeber und führen mit ihr ein sicherlich aufschlussreiches Interview.
      Herzl. Gruß
      Die Redaktion

    2. Lieber Michael,
      vielen Dank! Ich freue mich, wenn meine Erkenntnisse anderen Schreibenden nützen. (Dazu ist u. a. dieser Blog da.) Und ich freue mich auch, dass du meine Hinweise nicht missverstehst als „Gebots-Keule“ à la „muss so und darf nicht anders sein“. Jede Geschichte – ob Roman oder Kurzgeschichte – hat ihren eigenen Aufbau. Was für das eine perfekt passt, funktioniert bei einem anderen Text nicht oder nur eingeschränkt. Das Einzige, was am Ende zählt, ist, dass die Mehrheit des späteren Lesepublikums begeistert ist. Ob mit Originalität oder Klischee oder einem Mix aus beidem ist egal. Nur, wie gesagt, nach meiner (!) Erfahrung haben originelle Inhalte und besonders unerwartete Wendungen größere Chancen auf Erfolg als Texte nach „Schema F“. Mehr dazu gibt es in einer der späteren Blog-Folgen über Spannungserzeugung und Spannungssteigerung.
      Gutes Schaffen!
      Mara Laue

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