Von der Kunst des Prosaschreibens – Das Setting 3
Kluge Hinweise von Mara Laue
„Fremde“ Welten und Subkulturen im realen Umfeld
Fremde Welten im realen Umfeld
Manchmal kommen einem Ideen für Geschichten, für die man ein spezielles Umfeld braucht. Meistens findet man das irgendwo auf der Welt. Doch dann steht man, wenn man dieses Setting realistisch schildern will, unter Umständen vor zwei Problemen. Zum einen erfordert die Recherche für Sitten, Bräuche, Gesetze, Mentalität der Landsleute, eventuell auch die Historie des Landes manchmal eine immense Zeit (abhängig vom Plot). Außerdem könnte man am Ende oder schon während der Recherche feststellen, dass die Dinge, die man für die Geschichte braucht, in diesem Land, an diesem Ort, so gar nicht existieren oder nicht funktionieren.
Natürlich gibt es die „dichterische Freiheit“, die aber das Problem beinhaltet, dass es IMMER Lesende gibt, die die realen Gegebenheiten kennen und sofort erkennen, dass wir sie mit unserer frei erfundenen Schilderung „vorgeführt“ haben. Und das nehmen die meisten Leute sehr übel. Was also tun, wenn unsere Geschichte zwar in der realen Welt spielen soll und auch in der Gegenwart, wir aber trotzdem so viel „frei fabulieren“ müssten, um unsere Geschichte zu verwirklichen, dass diese „Fabel“ nirgends in die Realität passt? Und wenn wir weder einen Science-Fiction- noch einen Fantasyroman daraus machen wollen/können und wir erst recht nicht unser Lesepublikum verprellen wollen mit unserer „Fabel“ – was tun wir dann?
Wir tricksen mal wieder und erfinden ein neues Land, Bundesland, einen Stadtstaat (wie z. B. Berlin oder Bremen) oder eine ganze „Grafschaft“, wie Caroline Graham das für ihren „Inspector Barnaby“ getan hat. Die in ihren Romanen vorgestellte Grafschaft Midsomer ist reine Fiktion. Ebenso das Königreich Wakanda aus dem Marvel-Comic-Universum, das die Heimat des Superhelden „Black Panther“ ist. In einem so erfundenen Land können wir ALLES nach unserem Gusto und den Bedürfnissen unserer Geschichte festlegen, erfinden und fabulieren, wie es uns gefällt – und die Lesenden haben trotzdem das Gefühl (sofern wir das Fabulieren nicht übertrieben haben), eine im Hier und Jetzt und in unserer Welt spielende Geschichte zu lesen.
Besonders wichtig ist dieser Trick, wenn wir ein politisch brisantes Thema aufgreifen. Nehmen wir zum Beispiel ein aus Fremdenhass begangenes Verbrechen für einen Krimi. Es gibt – rein statistisch belegt und damit wertungsfrei – Städte, in denen solche Verbrechen gehäuft vorkommen. Selbstverständlich steht es uns frei, eine solche Stadt als Schauplatz zu wählen. Doch wird der Stadt und ihren Einwohnenden nicht gefallen, literarisch an den Pranger gestellt zu werden. Verständlich, denn die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sind gesetzestreu und alles andere als fremdenfeindlich. Negative Reaktionen auf ein solches Buch sind deshalb schon im Vorfeld gewiss.
Versetzen wir die Handlung aber in eine fiktive Stadt und beschreiben sie so, dass sie nicht frappierend einem realen Vorkommnis ähnelt, das durch die Presse bekannt wurde, und die Stadt das Ebenbild einer real existierenden ist, so haben wir das Thema verarbeitet, unser Statement dadurch abgegeben (bei diesem Beispiel gegen Fremdenfeindlichkeit), ohne dass sich reale Personen dadurch angegriffen fühlen können. (Abgesehen von einigen unliebsamen Zeitgenossen, die alles persönlich nehmen, auch Dinge, die sie gar nicht betreffen.) Das Einzige, was wir in so einem Fall tun müssen, ist, in einer Vorbemerkung oder einem Nachwort offenbaren, dass die Stadt „Weißmensch“ oder das Land „Freireich“ pure Fiktion sind und real nicht existieren. Denn es gibt immer Menschen, die ohne eine solche Information alles Gedruckte für wahr halten.
Subkulturen
Für das Beschreiben realer Subkulturen (negatives Beispiel: kriminelle Clans) müssen wir „nur“ gut recherchieren. Spielt unsere Geschichte aber in der „Subkultur“ einer Vampirkolonie, eines Werwolfrudels, einer Dämonengruppe, eines von uns erfundenen „Indianerstammes“, eines Geheimbundes von Auftragskillern oder in einer anderen homogenen Gruppe (z. B. Straßengangs), so hat auch die eigene Regeln, eigene Gesetze, Traditionen, Hierarchien etc. Diese sollten wir ebenso wie das Setting einer erfunden Welt VOR dem Schreiben unserer Geschichte, unseres Romans detailliert festlegen. Einschließlich ihrer Entstehungsgeschichte, denn alle Moralvorstellungen, Gesetze und Traditionen, nach denen wir uns heute richten, sind „historisch gewachsen“ und resultieren aus den Erfahrungen, die wir als Nation aus der Geschichte „gelernt“ haben.
So sind zum Beispiel Artikel 1, 2 und 3 unseres Grundgesetzes ein direktes Resultat aus den Gräueltaten der Nazizeit: Dass die Würde des Menschen unantastbar ist (Artikel 1), dass Deutschland sich „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt (Artikel 1.2), dass jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat (Artikel 2) und dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind (Artikel 3). Auch fiktive Subkulturen haben solche Gesetze, die je nach Art der Subkultur nicht immer mit den juristischen Gesetzen übereinstimmen.
Um diese Subkultur glaubhaft darzustellen und innerhalb ihrer Handlungen Widersprüche zu vermeiden, sollten wir sie als eigenständiges „Volk“ behandeln und entsprechend umfassend entwerfen. Gern auch mit einer eigenen Geheimsprache (wie z. B. das Rotwelsch als deutsche „Gaunersprache“), wenn das ins Konzept passt. Auch hier gilt, dass keineswegs alles oder auch nur ein überwiegender Teil dessen, was wir entwerfen, in unserem Roman Eingang finden muss. Aber für die lebendige und vor allem widerspruchsfreie Schilderung der Subkultur ist so ein Entwurf unerlässlich. Natürlich nur, wenn die Subkultur eine zentrale Rolle spielt und nicht nur wenige Male beiläufig erwähnt wird.
In der nächsten Folge:
Titelfindung
In weiteren Folgen:
- Die Kurzgeschichte: eine Kunst für sich
- Das Exposé
- Manuskriptnorm und Verlagsanschreiben