Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – Die Kunst der Perspektive

Kluge Hinweise von Mara Laue

6. Perspektivbrüche und ihre Folgen

Oft verraten Schreibende ihr Wissen zwar nicht auktorial oder semi-auktorial, sondern auf andere Weise und legen es ihren Figuren „in den Mund“. Als Schreibende wissen wir selbstverständlich, weil wir die Handlung entworfen haben, dass der letzte Woche erfolgte Diebstahl eines wertvollen Gemäldes aus dem Haus eines Sammlers und der gestern getätigte Einbruch, bei dem nichts gestohlen wurde, miteinander zusammenhängen. Aber unser Ermittlungsteam kann das nicht wissen, weil der Modus Operandi ein völlig anderer ist. Zieht also jemand von ihnen ohne den geringsten Hinweis auf denselben Täter eben diesen Schluss, entbehrt das jeder Logik. Hier haben die Autorin/der Autor ihr Wissen über die Zusammenhänge dem Ermittlungsteam „verraten“ und dadurch einen logischen Bruch erzeugt.

Der Mörder hinterlässt bei der Leiche einen gefälschten Abschiedsbrief, zündet aber danach die Wohnung an, um seine Spuren zu verwischen. Das hat er nur getan, weil der Autor wusste, dass die Feuerwehr rechtzeitig eintreffen würde, um den Brand zu löschen, und dadurch den Brief unversehrt finden wird. Sein Wissen um das Eingreifen der Feuerwehr hat er seinem Mörder „verraten“, andernfalls der schon ziemlich blöd sein müsste, um einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, der gefunden werden soll, aber dann die Bude abzufackeln, wobei eben dieser Brief unweigerlich verbrennt.

Die Autorin weiß, weil sie das so geplant hat, dass Lilly auf dem Weg durch den Wald ihren künftigen Liebsten treffen wird, weil der sich eben dort verirrt hat. Also lässt sie Lilly, um die Begegnung zu arrangieren, ohne jeden Grund und Anlass heute statt ihres normalen Weges einfach mal durch den Wald gehen. Da Lilly aber nicht hellsehen und deshalb nicht wissen kann, dass der künftige Liebste dort „wartet“, ergibt es keinen Sinn, dass sie durch den Wald geht und sie tut das nur, weil die Autorin durch ihr Wissen um das künftige Geschehen sie auf diesen Weg geschickt hat.
Oder nehmen wir das Beispiel aus einer früheren Folge hinsichtlich der glaubhaften Reaktionen, bei dem ein Gast im Restaurant gleich an einen Mord denkt, nur weil aus einer Toilettenkabine Blut fließt. Weil der/die Verfassende weiß, dass darin ein Mord passiert ist, lässt er/sie den Gast auf dieses Wissen reagieren (und Angst haben), das dieser gar nicht haben kann und nach allen Gesetzen „normaler“ Reaktionen sich nicht so verhalten würde, wie er es aufgrund des ihm vom Schreibenden „verratenen“ Wissens tut.
Diese Beispiele sollen genügen. Um solche „Verrate“ zu vermeiden, müssen wir uns immer fragen, ob unsere Figuren das, was sie tun, sagen, schlussfolgern etc., die Idee, die sie haben sollen, sie tatsächlich aufgrund der bis „hierher“ entwickelten Handlung und ihrem entsprechenden Wissen überhaupt tun/haben können. Zu diesem Zweck sollten wir uns immer sehr intensiv in unsere Figuren und ihre Gedanken und ihr Gefühlsleben hineinversetzen.

Eine Schreibkursteilnehmerin fragte mich einmal: „Wie kann ich denn vergessen, was ich über die (künftige) Handlung weiß, während ich in der Perspektive meiner Figuren schreibe?“ Leider kann man das nicht „vergessen“. Hier hilft wirklich nur, sich so stark in die Figuren einzufühlen, sich in sie hinein zu versetzen, als wären wir Schauspielende, die sich auf eine Rolle vorbereiten und danach auf der Bühne/vor der Kamera diese Figuren SIND, bis der Vorhang fällt. Und ich sage aus Erfahrung: Das ist „nur“ eine Sache der Übung. Je öfter wir dieses Eintauchen in unsere Figuren praktizieren, desto leichter fällt es uns.
Denn auch diese wichtige handwerkliche Fähigkeit entwickelt sich im Laufe der Schreiberfahrung. Und sollte uns trotzdem ein Perspektivbruch passieren, wird uns (hoffentlich!) das Lektorat darauf aufmerksam machen.

 

In der nächsten Folge:
Anrede und Figurenbenennung

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