Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere
Teil 1: Worauf es ankommt
von Mara Laue
Bevor wir in die „Vollen“ einsteigen, eine wichtige Definition:
- Die Hauptfigur (Protagonistin/Protagonist) ist die Person/Gestalt, deren Geschichte erzählt wird. Sie erhält den größten Raum im Text, auch wenn nicht jede Szene aus ihrer Perspektive geschildert wird.
- Zweite Hauptfigur ist entweder der Gegenpart der Hauptfigur (Antagonistin/Antagonist) oder (z. B. bei Liebesromanen) eine Figur, die ebenso viel oder fast so viel Raum einnimmt wie die Hauptperson. Das kann ein bester Freund sein, eine Geliebte, die ständig im Roman präsent ist, eine Assistenzfigur oder der Hund der Hauptperson. Zum Beispiel ist Dr. Watson die zweite Hauptfigur in den Sherlock-Holmes-Krimis, das Pferd Ostwind ist es in den entsprechenden Büchern und Filmen.
- Nebenfiguren sind alle Personen/Gestalten, die einen geringeren Anteil am Geschehen haben, die aber für die Handlung erforderlich sind. Meistens gehören sie zur Kollegschaft der Hauptfiguren, sind Nachbarinnen/Nachbarn, die Chefin, der Fitnesstrainer und alle, mit denen die Hauptfiguren ab und zu oder regelmäßig interagieren und die mindestens einmal eine wichtige Funktion für die Handlung erfüllen.
- Wichtige Nebenfiguren sind solche, die einen größeren Raum einnehmen, aber nicht ganz so viel wie die Hauptperson, und für die Geschichte und ihren Verlauf wichtig sind. Das können durchaus Antagonistin/Antagonist sein, wenn sie/er nur im Hintergrund agiert und selten persönlich auftritt, sowie jede andere Figur. Und notfalls können wichtige Nebenfiguren beim Tod der Hauptfigur deren Stellenwert einnehmen und zu Hauptfiguren werden – auch die Gegnerinnen/Gegner. Oder sie verselbstständigen sich so sehr, dass sie zu Hauptfiguren eines Spin-Off-Romans werden.
- Randfiguren sind solche, die nur einen einmaligen oder zweimaligen Auftritt haben und meistens nur Statistinnen/Statisten sind. Sie brauchen oft nicht einmal einen Namen und erfüllen nur den Zweck, entweder die Realität abzubilden, wenn es sich zum Beispiel um den Verkäufer an der Fleischtheke oder eine Notärztin handelt, weil die Fleischtheke nicht unbesetzt ist, wenn unsere Hauptfigur dort einkauft, und man sich nicht selbst verarzten kann. Oder sie tragen einmalig zur Entwicklung der Handlung bei, zum Beispiel wenn sie als Zeuginnen/Zeugen im Krimi einen entscheidenden Hinweis geben oder nach dem Unfall der Hauptfigur Polizei und Rettungswagen rufen und das Autokennzeichen des flüchtigen Unfallfahrers nennen können.
Der Dreh- und Angelpunkt jedes guten Romans und jeder interessanten Geschichte ist die Hauptfigur – nicht die Handlung, nicht das Verbrechen, in das sie verstrickt wird, nicht die Liebe, die sich mit allen Verwicklungen ergibt, nicht die Reise zu fernen Sternen und auch nicht, wie die Welt vor dem Untergang gerettet wird. DIE HAUPTFIGUR ist immer der Mittelpunkt, denn alles, was im Verlauf der Geschichte passiert, hat einen direkten oder indirekten Bezug zu DIESER PERSON. Entweder sie handelt selbst oder die Handlungen anderer Personen sowie die Ereignisse in ihrer Umwelt wirken auf sie ein. Aus diesem Grund wird jeder Plot um die Hauptfigur einer Geschichte herum konstruiert, nicht um die Handlung.
Aufgabe nicht nur der Hauptperson, sondern ALLER Figuren einer Geschichte ist, den Plot zu entwickeln und voranzutreiben. Niemals umgekehrt!
Die Lesenden erleben die Handlung durch die Augen der Hauptperson (und anderer Personen), aus ihrer Perspektive und identifizieren sich mit ihr. Das ist einer der Hauptgründe, warum die auktoriale Perspektive, bei der Autorinnen/Autoren den Lesenden erzählen, was in der Geschichte geschieht, in modernen Romanen und Storys nicht mehr oder nur noch selten verwendet wird. Deshalb müssen wir ganz besonders unsere Hauptpersonen, aber beileibe nicht nur sie, so authentisch wie möglich darstellen. Sie müssen für die Lesenden zu Menschen werden, die ihrem Empfinden nach so lebendig sind wie ihr bester Kumpel oder eine langjährige Nachbarin. Sie brauchen Substanz.
Jeder Mensch hat eine individuelle Lebensgeschichte, die ihn prägt und die seinen Handlungen, seinem Verhältnis zu den Mitmenschen, der Umwelt, dem religiösen und politischen Bekenntnis, seinen Moralbegriffen zugrunde liegt. Diese Lebensgeschichte bestimmt (meistens, aber nicht immer) die soziale Stellung, die Ausbildung, den Beruf und prägt teilweise auch den Charakter. Das gilt nicht nur für reale Menschen, sondern auch für fiktive Romanfiguren. Sie haben Ecken und Kanten, Fehler und Schwächen, Stärken, eventuell einen oder mehrere „Lebensbrüche“ im Gepäck, die ihnen zu schaffen machen und sie beeinträchtigen (unsere Hauptfigur sollte einen haben, das macht sie interessanter). Sie haben Ängste, positive und negative Eigenschaften, feiern Erfolg(e) und fallen auch mal ordentlich auf die Nase.
Auch wenn die Lesenden das nicht immer bewusst merken, machen doch erst die in den Romanen „lebenden“ Menschen die Geschichten spannend und interessant. Ohne sie gäbe es überhaupt keine Handlung. Selbst bei Animal Fiction haben die Tiere, deren Geschichte erzählt wird, individuelle Charaktere. Ob eine Geschichte, ein Roman gut bei den Lesenden ankommt, hängt unter anderem davon ab, wie gut uns gelungen ist, unsere Heldinnen/Helden und alle Nebenfiguren „zum Leben zu erwecken“. Deshalb ist unerlässlich, der Entwicklung unserer Figuren besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Auch wenn die Heldinnen/Helden Gegenstände oder personifizierte Begriffe sind.
Gerade unsere Hauptfiguren – die positiven wie die negativen – bleiben blass, wenn wir ihnen nicht durch ihre individuelle Lebensgeschichte Tiefe verleihen. Die Lesenden wollen in die Haut ihrer Heldinnen/Helden schlüpfen können, durch ihre Augen sehen, fühlen, was sie fühlen, und sie so gut kennenlernen wie ihren besten Freund. Um den Lesenden dieses Gefühl zu vermitteln, müssen wir Autorinnen/Autoren als Erstes selbst die besten Freundinnen/Freunde unserer Figuren und auch von deren Gegenparteien werden. Sonst bleiben unsere Figuren für die Lesenden nicht greifbar, und sie können sich nicht mit ihnen identifizieren.
Wie wollen wir zum Beispiel in unserem Publikum Verständnis für die Leidenschaft des Helden am Tauchsport wecken, wenn wir nicht den Grund dafür nennen? „Er liebte das Tauchen“, ist zwar eine wichtige Information, transportiert jedoch kein Gefühl, das wir als Lesende nachvollziehen könnten. Wenn wir aber in einem Absatz seine Gefühle beschreiben, die er empfunden hat, als er zum ersten Mal als Kind beim Schwimmenlernen unter Wasser die Augen öffnete und staunend am Meeresboden einen Krebs krabbeln, einen Fisch davonschwimmen und Seegras sich mit den Wellen bewegen sah, was in ihm Faszination und ein Glücksgefühl auslöste, dann wird aus der Tauchleidenschaft statt des austauschbaren Zeitvertreibs und Sports eine auch für uns spürbare Herzens- und Seelenangelegenheit. Wenn wir den Lesenden nicht die schlimmen Kindheitserlebnisse der Heldin vermitteln, die von Zurückweisungen und Kinderheim geprägt sind, können sie nicht begreifen, warum sie aus Angst vor neuen Zurückweisungen den Mann, der es gut mit ihr meint, immer wieder vor den Kopf stößt. Ohne dieses Hintergrundwissen erleben die Lesenden sie als arrogante Zicke und können keine Sympathie für sie entwickeln.
Erstaunlicherweise gelingt es uns als Autorinnen/Autoren nicht oder nicht gut genug, unseren Figuren fühlbares Leben einzuhauchen, wenn wir ihnen nicht ihre gesamte Lebensgeschichte von der Wiege bis zur Bahre (bzw. bis zum Zeitpunkt der Romanhandlung) auf den Leib schneidern, bevor wir sie zum ersten Mal im Roman handeln lassen. Das schaffen in vielen Fällen nicht einmal die Profis; doch manchen gelingt es. Für unsere Nebenfiguren genügt, ein paar Eckdaten zu notieren oder im Kopf zu haben. Für unsere Hauptpersonen sollten wir uns Zeit nehmen, um sie sorgfältig zu entwerfen und sie bis in ihr tiefstes Inneres kennenzulernen. Auch die „Bösewichte“.
Ich weiß: Es gibt viele Romane, in denen die Hauptfigur „blass“ bleibt und nicht mehr Profil besitzt als seit zwanzig Jahren abgenudelte Winterreifen. Stimmt, solche Romane gibt es. Sie bilden die einzige Ausnahme von dieser Prämisse, weil es sich um reine Abenteuergeschichten handelt. Kennzeichen von Abenteuergeschichten und -romanen ist, dass das Abenteuer im Mittelpunkt steht und die Hauptfigur weder ein erkennbares Profil hat, noch sich im Lauf der Geschichte in irgendeiner Form (charakterlich) entwickelt, was normalerweise für die Hauptfigur in einem Roman unerlässlich ist. Wenn das, was im Verlauf der Handlung mit der Hauptfigur geschieht, keinen Einfluss auf sie hat, fehlt dem Roman in Bezug auf die Heldinnen/Helden der Sinn und vor allem die Tiefe, die „Substanz“. Ist dann eben „nichts weiter“ als „nur“ ein Abenteuer.
WICHTIG:
Von Abenteuerromanen abgesehen ist eine gut entworfene Hauptfigur der Kernpunkt jeder Geschichte. Diese Geschichte könnte ohne diese Hauptperson nicht so ablaufen, wie sie abläuft. Jede Eigenschaft, jeder Fehler, jede Schwäche und Stärke, jeder Beruf, jede körperliche und seelische Prägung/Einschränkung, die diese Person erlitten hat, beeinflusst direkt oder indirekt das gesamte Geschehen. Würde man nur einen einzigen Aspekt davon ändern, würde sich dadurch auch die Story teilweise oder sogar vollständig ändern. Jedoch kann die Hauptfigur auch ein abstrakter Begriff (Rätsel, der Tod, die Traurigkeit, das Glück), ein Tier oder ein Gegenstand (ein Zinnsoldat, ein Stein, der Ozean) sein. Letzteres gut auszuarbeiten, erfordert aber eine Virtuosität im Beherrschen des Schreibhandwerks, die sich erst im Laufe der Schreiberfahrung herausbildet.
Ebenfalls wichtig:
Unsere Figuren tragen sehr zur Entwicklung der Spannung in unser Geschichte bei. Deshalb gilt auch für sie die Prämisse der Stringenz:
- Wir beschreiben von unseren Figuren immer nur das, was wirklich notwendig ist und für die Handlung eine Rolle spielt. Beispiel: Wenn für die Heldin keine bleibenden Folgen für den Rest ihres Lebens hat (die wiederum die Romanhandlung beeinflussen), dass sie in der Grundschule wegen ihrer Zahnspange gehänselt wurde, hat diese Information in unserer Geschichte auch nichts zu suchen und hielte sie nur auf. In der „Personalakte“ (mehr dazu in einer späteren folge) ist das aber selbstverständlich vermerkt.
- Beschreiben wir unsere Figuren durch deren Handlungen und Gedanken oder einen Dialog, aber niemals als Aufzählung von (Charakter-)Eigenschaften oder Verhaltensweisen. Dies gilt besonders für das Aussehen (siehe eine frühere Folge „Show, don’t tell!“).
- Wir verzichten auf alle Figuren, die für die Handlung keine Rolle spielen. Beispiel: Geht unser Held im Supermarkt nur an der Käsetheke vorbei, ohne dort etwas zu kaufen, ist überflüssig zu erwähnen, ob dahinter eine Verkäuferin steht oder gar wie sie aussieht. Hat unsere Heldin eine Freundin, deren einzige Rolle ist, dass sie ab und zu mit ihr ein Bier trinken geht und über Gott und die Welt plaudert, ist eine Szene, in der die beiden nichts anders tun als eben das, überflüssig und verschleppt die Handlung.
In der nächsten Folge:
Klischees und wie man sie vermeidet
In weiteren Folgen:
- Der Name, eine Wissenschaft für sich
- Figurennennung im Text
- Die Namensliste, Personenregister
- Der Charakter
- Die Ausdrucksweise
- Handlungsmotive
- Glaubhafte Reaktionen/Handlungen
- Die „Personalakte“
- Die Hauptfigur und ihr Gegenpart
- Nebenfiguren
- Broken Hero, der „gebrochene Held“