Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere
Kluge Hinweise von Mara Laue
Teil 10: Die Hauptfigur, ihr Gegenpart und Nebenfiguren
Kein Roman kommt ohne den Konflikt zwischen der positiv besetzten Hauptperson – Protagonistin/Protagonist – und ihrem Gegenpart – Antagonistin/Antagonist – aus. Das gilt auch für Kurzgeschichten, sofern sie nicht rein beschreibende Texte über ein Ereignis im Leben nur einer Person sind, für das keine weitere Person erforderlich ist. Aus diesem Grund ist die Ausarbeitung des Gegenparts ebenso wichtig wie die der positiven Hauptperson. Dabei kommt es nicht in erster Linie auf die sorgfältige oder überhaupt eine Beschreibung des Äußeren an, sondern auf das Verhältnis zwischen diesen beiden. Was verbindet sie, was trennt sie? Warum sind sie überhaupt Gegner? Waren sie einmal befreundet? Welcher Natur ist der Konflikt zwischen ihnen: Eifersucht, Rivalität, ein Verbrechen, (tödlicher) Hass? Und so weiter.
Und natürlich sollten wir auch vor dem, aber spätestens beim Schreiben unseres Romans/unserer Geschichte mehrere mögliche Lösungen des Konflikts durchspielen und uns am Ende für die entscheiden, die aus den entwickelten Charakteren heraus die konsequenteste ist. Eine solche Lösung kann durchaus darin bestehen, dass die anfänglichen Feinde vielleicht nicht unbedingt zu Freunden werden, aber einen gegenseitigen Respekt entwickeln und ihren Konflikt auf friedliche Weise bereinigen. Oder sich einfach nur einigen, einander ab jetzt in Ruhe zu lassen. Falls das zu ihren Charakteren passt. Ein von Hass getriebener Antagonist, der Jahre mit der Verfolgung des Protagonisten zugebracht hat, um ihn zu töten, weil er ihn für den Mörder seiner Frau hält, wird garantiert nicht plötzlich auf seine Rache verzichten – es sei denn, wir können das glaubhaft belegen. Zum Beispiel indem der Antagonist Beweise für die Unschuld des Protagonisten bekommt. Die müssten aber wirklich hieb- und stichfest sein, andernfalls er sie nicht glauben würde.
Antagonistinnen/Antagonisten sind nicht immer die „Bösen“, sondern die zunächst wertneutralen Gegenparteien der Hauptfigur. Ist der Held zum Beispiel ein (durchaus sympathisch besetzter) Kleinkrimineller und sein Gegner der ihn verfolgende Polizist, dann ist der Polizist der eigentlich Gute, weil er Recht und Gesetz vertritt und der Held trotz aller Sympathie der „Böse“, weil er Verbrechen begeht. Oder wenn der Antagonist der von der Bergsteigerin zu bezwingende Berg ist, ist dieser zwar der Gegner der Heldin, aber kaum „böse“, auch wenn die Heldin während der quälenden Besteigung ab und zu diesen Eindruck bekommt.
Auch ein Sieg oder Entkommen einer („bösen“) Gegenpartei ist denkbar, wenn wir die im Laufe des Romans bis zu einem gewissen Grad zu einer Sympathiefigur aufgebaut haben oder es sich um eine mehrbändige Romanserie handelt.
Gerade bei der Figur des Gegenparts sollten wir uns jedoch noch mehr als bereits grundsätzlich vor Klischees hüten, nicht nur hinsichtlich des Äußeren. Sofern Gegnerin/Gegner nicht unter einer psychischen oder neuronalen Krankheit leiden, die sie unfähig machen, Gefühle zu empfinden, werden auch sie in gewissen Situationen Mitgefühl haben, können sie ein liebevolles Familienmitglied, Eltern sein, besitzen Ehre und ein Gewissen, sind zu Zärtlichkeit fähig usw.
Man muss sich nur die Berichte über gefasste Mörder oder Amokläufer in den Medien ansehen, um das bestätigt zu bekommen. Viele von ihnen waren im Alltag völlig unauffällig und wurden oft von ihren Angehörigen und Leuten aus der Nachbarschaft als freundlich, hilfsbereit und liebevoll geschildert. Niemand hatte ihnen die entsetzliche Tat zugetraut.
Eine interessante Variante ist das Vertauschen der Rollen der beiden Gegenparteien. Der Held mausert sich im Laufe des Romans zum Schurken, die Antagonistin wird geläutert. Oder nur einer von beiden macht diese Wandlung durch und tut sich vielleicht mit der/dem anderen zusammen. Diese Spielart erfordert allerdings ein großes schreibhandwerkliches Geschick, denn wir müssen diesen Wandel absolut überzeugend darstellen. Hierzu sind Kenntnisse der menschlichen Psyche erforderlich, die man vorher sorgfältig recherchieren sollte, andernfalls einem der Plot „um die Ohren fliegt“.
Den Fall der „umgedrehten Guten“ finden wir manchmal in Krimis, wenn ein bis dahin unbescholtener Polizeibeamter einer Versuchung erliegt (meistens Geld oder – Achtung, Klischee! – eine schuldige Verdächtige, in die er sich verliebt) oder er aus Frust darüber, dass seine Arbeit von Vorgesetzten und Kollegschaft nicht gewürdigt wird, die Seiten wechselt. Auch in Liebesromanen kommt der Wandel hin und wieder vor, wenn die große Liebe ihn/sie so schwer enttäuscht hat, dass die Liebe in Hass umschlägt und er/sie den ehemals geliebten Menschen mit (mörderischen) Racheplänen verfolgt oder alles daransetzt, ihr/sein Glück mit jemand anderem zu zerstören.
Geläuterte Antagonistinnen/Antagonisten gibt es dagegen nicht so häufig. Sie haben aber in sofern großes Potenzial, weil die Protagonistinnen/Protagonisten (und nahezu alle anderen positiven Figuren) ihnen die „Läuterung“ zunächst (lange) nicht abkaufen. Wenn wir das gut ausarbeiten, zweifeln auch die Lesenden, ob der Wandel zum guten tatsächlich erfolgt ist oder nur ein Trick ist, mit dem Antagonistin/Antagonist Heldin/Held am Ende doch reinlegen und vernichten will. Daraus ergibt sich ein zusätzliches Spannungspotenzial, das bis zum Schluss anhält.
Nebenfiguren
Alles, was bisher über die positiven Hauptfiguren und deren Gegenpartei gesagt wurde, gilt grundsätzlich auch für alle Nebenfiguren. Für diese brauchen wir lediglich nicht ganz so umfangreiche Entwürfe wie für die Hauptfiguren. Für Personen, die nur ein einmaliges oder seltenes „Gastspiel“ geben, genügt ein entsprechender Eintrag in die Namensliste.
Das Wichtigste bei den Nebenfiguren ist, dass sie einen direkten und zwingend erforderlichen Bezug zur Handlung haben müssen. Ist das nicht der Fall, sind sie überflüssig. Der Stringenz (und Vermeidung von Längen im Text) wegen, sollten wir auf jede Person in unseren Texten verzichten, die nicht zur Weiterentwicklung der Handlung beiträgt oder aufgrund der Situation in einer Szene zwingend (!) erwähnt werden muss, selbst wenn es sich um die beste Freundin der Heldin oder die Ex-Frau des Helden handelt.
Ein besonderes Augenmerk sollten wir auch bei den Nebenfiguren auf die Namensgebung legen. Benötigen wir eine Person nur in ihrer Funktion, z. B. als Mechanikerin oder Sekretär, so ist grundsätzlich überflüssig, ihr einen Namen zu geben. In solchen Fällen genügt es zu schreiben: „die Mechanikerin (in/aus der Werkstatt)“, „(Herr) Sebalds Sekretär“, „die behandelnde Ärztin“, „der Fitnesstrainer“ usw. Denn sobald wir einen Namen erwähnen, signalisieren wir damit den Lesenden, dass die Person erstens noch einmal vorkommen wird und zweitens eine gewisse Bedeutung für die folgende Handlung hat. Ist das nicht der Fall, sind die Lesenden irritiert oder sogar enttäuscht, weil sie sich von uns mit der Namensnennung auf eine „falsche Fährte“ gelockt fühlen.
Ein weiteres Kriterium, das wir nicht außer Acht lassen sollten, ist der Name selbst. Besonders wenn man Mehrteiler schreibt, sollten wir auch für die namentlich genannten Nebenfiguren den Namen sorgfältig aussuchen nach den in einer frühren Folge genannten Kriterien. Zum einen weil aus unserer Story oder unserem Roman ein Mehrteiler werden könnte, in dem eine Nebenfigur einen größeren Part übernimmt oder eine Nebenfigur in einem Spin-off eine eigene Geschichte erhalten könnte. Zum anderen, weil wir mit einem Namen gewisse Charakteristika hinsichtlich örtlicher Herkunft, sozialer Stellung und teilweise sogar das ungefähre Alter verbinden. Auch Nebenfiguren sollten so authentisch wie möglich sein und in ihr „Umfeld“ passen.
Doch auch in diesem Punkt kommt die Finesse mit der Schreiberfahrung und der entsprechenden Übung.
In der nächsten Folge:
- Broken Hero, der „gebrochene Held“