Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere
Teil 2: Klischees und wie man sie vermeidet
von Mara Laue
Romane, besonders Genreromane (z. B. Krimis oder Liebesromane, aber auch alle anderen) leben von der immer gleichen Art der vorkommenden Figuren. Der Krimi braucht ein Ermittlungsteam und eine Person, die ein Verbrechen begangen hat. Der Liebesroman braucht mindestens zwei sich Liebende, kein Fantasyroman ohne schwertschwingende Frauen und Männer und in dem nicht mindestens eine Person magische Kräfte besitzt. Kein Western ohne Cowboys, kein Gruselroman ohne Vampire, Dämonen, Werwölfe, Hexen etc. So weit, so noch klischeefrei.
Jedoch fällt auf, wenn man sich die Romanfiguren einmal kritisch betrachtet, dass die meisten von ihnen „gleich“ sind. Sie unterscheiden sich außer im Namen und Aussehen nicht oder kaum von einander. Sie sind austauschbar. Aber auch das würde noch nicht den „Tatbestand“ eines Klischees erfüllen. Klischees sind schon allzu oft gebrauchte Stereotypen, die uns immer wieder dasselbe erzählen, was die Dinge, zu denen sie gehören, uninteressant und langweilig macht. Zumindest unsere Hauptfigur (und gern auch die Antagonistinnen/Antagonisten) sollte immer „das gewisse Etwas“ haben, damit unsere Werke sich auch dadurch positiv vom Gros der anderen Romane abheben. Wenn wir bei unseren Figuren in die Klischeefalle tappen, vergeben wir damit mehr als eine Chance zur Spannungserzeugung bzw. Spannungssteigerung und auch die, unserem Lesepublikum hier und da eine Überraschung zu servieren.
Der Grund: Stereotypen sind vorhersehbar. Weil wir sie aus anderen Romanen, Storys, Filmen so gut kennen, können wir ihr Verhalten mit beinahe traumwandlerischer Sicherheit voraussagen. Wir wissen, wie sie reagieren und aufgrund dessen, was sie als Nächstes tun. Dadurch können wir auch vorhersagen, wie sich die Handlung als solche entwickelt und meistens auch, wie sie ausgeht. Wie langweilig! Spannung, die es in JEDEM Genre braucht, geht anders.
Das sich durch fast jedes (moderne) Buch und jeden Film ziehende Kardinalklischee ist, dass die Heldinnen und Helden fast immer wunderschöne Menschen oder doch zumindest überdurchschnittlich gutaussehend sind. In der Regel sind diese Leute auch vom Glück begünstigt, haben einen sportlichen Körper, einen tollen Job, mindestens eine gute Freundin, einen guten Freund oder sogar einen ganzen Stall von Freundinnen/Freunden, sind allseits beliebt, von gutem Charakter und haben (fast) keine Sorgen außer den Konflikten, um die es in der Story geht. Und selbstverständlich gelingt ihnen nahezu alles „wie von selbst“. Natürlich gibt es solche Menschen tatsächlich, aber sie sind, gemessen an der gesamten Bevölkerung, in der Minderheit. Analysiert man aber die Romanheldinnen/-helden, bekommt man den Eindruck, Hauptperson eines (gemessen am Alltag) ungewöhnlichen Geschehens zu sein, ginge mit diesen Eigenschaften einher oder gehöre dazu. Bei den Heldinnen gibt es zwar die beliebte Variante, dass sie sich aus Armut oder anderen widrigen Verhältnissen an die Spitze kämpfen, aber am Ende wird aus Aschenputtel allzu oft die strahlende Prinzessin, aus dem „hässlichen (armen) Entlein“ der wunderschöne Schwan (im weitesten Sinn). Ausnahmen des „Schönheitswahns“ gibt es manchmal und zunehmend häufiger in Krimis, aber dort sind die weniger gutaussehenden Leute fast immer die (nicht immer nur positiv dargestellten) Vorgesetzten oder/und die „altgedienten“ Kolleginnen/Kollegen von über fünfzig. Und selbstverständlich die Schurken. Nur selten wird dieses Klischee einmal umgangen.
Die folgenden Liste zeigt eine (unvollständige) Auswahl der gängigsten Klischees. Sie kommen selbstverständlich nicht in jedem Roman vor, tummeln sich aber schon in allzu vielen.
In Liebesromanen:
- Heldin und Held sind immer schöne Menschen.
- Die Intrigantin/der Intrigant ist zwar oft auch schön/gutaussehend, charakterlich aber immer oberflächlich und meistens hinter dem Erbe, Geld, sonstigem materiellen Besitz der Hauptperson her.
- Die vermeintlich beste Freundin/der beste Freund sind intrigant aus Neid oder Eifersucht.
- Der/die Verflossene/Jugendliebe intrigiert aus Eifersucht/Hass, manchmal bis zum Mordversuch.
- Die Heldin stammt aus „kleinen Verhältnissen“, der Mann ihrer Träume (den sie später selbstverständlich heiratet) gehört zur „High(er) Society“. Fast nie gibt es die umgekehrte Konstellation.
- Selbstverständlich ist „Er“ immer größer als „Sie“, hat den besser(bezahlt)en Job, die höherwertige Ausbildung, ist fast immer älter als „Sie“. Selbst wenn beide selbstständig sind, eigene Geschäfte führen, ist „Er“ immer der Erfolgreichere = verdient das meiste Geld.
- Er initiiert immer den ersten Kuss, erst recht den ersten Sex. Und am Ende gibt die Frau alles auf, um zu ihm zu ziehen. Ist es umgekehrt, gibt der Mann nichts wirklich auf, sondern hat einen gravierenden persönlichen oder beruflichen Vorteil, wenn er zu ihr zieht.
- Die (künftigen) Schwiegereltern sind mit der Partnerwahl von Sohn/Tochter nicht einverstanden (und versuchen, ihr/ihm die Wahl auszureden bzw. machen dem verheirateten Paar oder „nur“ dem ungeliebten Schwiegerkind Stress).
- Taucht eine alte Flamme der Heldin kurz vor ihrer Hochzeit mit einem anderen Mann auf, platzt allzu oft die Hochzeit und sie entscheidet sich für die alte Flamme, weil er ihre einzige wahre Liebe ist. Selbst wenn er sie vor Jahren im Stich gelassen hat, um sich die Welt anzusehen und sich kein einziges Mal gemeldet hat.
- Taucht eine alte Flamme des Helden kurz vor der Hochzeit auf, intrigiert diese zwar, was das Zeug hält, um die Hochzeit platzen zu lassen und den Helden zurückzugewinnen, aber er entscheidet sich am Ende gegen sie und heiratet seine Auserwählte.
- Die Heldin verliebt sich ausgerechnet (der Teufel weiß, warum) in einen „Bad Boy“, der sich ihr (und anderen Menschen) gegenüber wie der letzte (Pardon!) Arsch benimmt, manchmal sogar (klein)kriminellen Aktivitäten frönt, aber trotzdem liebt sie ihn und setzt alles daran, ihn zu „bekehren/retten“, was ihr selbstverständlich auch gelingt. (Nebenbei: Realitätsfremder geht es kaum noch! Dafür hat gerade dieses Klischee schwerwiegende Folgen für reale Frauen: Sie entwickeln Depressionen, (ver)zweifeln an sich und ihrer Liebe, wenn es ihnen nicht nach literarischem Vorbild gelingt, einen Bad Boy zu bekehren und glauben, ihn nicht genug zu lieben. – Diese Auskunft stammt von einem Psychiater, der zunehmend solche Frauen in seiner Praxis hat.)
- Sind die Liebenden unterschiedlicher Nationalität, ist es in der Regel der (deutsche) Mann, der sich in die „Fremde“ verliebt und sie gegen alle Widerstände heiratet. Oft gehören diese Romane zum Subgenre der humorvollen Literatur, und die unterschiedliche Mentalität der Liebenden und vor allem die ihrer Familien wird für Slapstick-Einlagen benutzt oder anderweitig auf die Schippe genommen oder klischeehaft verballhornt. Wie weit das in einigen Fällen auch noch diskriminierend ist, sei hier dahingestellt. Und fast immer ist die Frau diejenige, die sich der Kultur des Mannes anpasst, zumindest teilweise, während er bleibt, wie er ist oder nur marginale Zugeständnisse macht.
In Krimis:
- Die Hauptperson (Ermittlerin/ Ermittler) ist entweder eine weitgehend kaputte Type oder eine als taff bis zur Zickigkeit dargestellte Frau. Ist sie taff und kompetent, ist sie nahezu immer jenseits von Mitte vierzig.
- Er/sie ist geschieden bzw. der letzte Beziehungsversuch ist gescheitert. Ermittlungsfiguren in glücklichen Beziehungen kommen selten vor.
- Der Ermittler (seltener die Ermittlerin) verliebt sich in eine(n) Verdächtige(n) und verhält sich von da an unprofessionell bis hin zu Gesetzesbrüchen.
- Ermittelnde halten sich grundsätzlich nicht an Regeln, Dienstvorschriften und Gesetze, wenn/weil sie meinen, Recht zu haben und deshalb auf die Regeln sch… Und am ende bekommen sie – völlig realitätsfremd – gerade mal einen Klaps auf die Finger und oft nicht mal den, statt Suspendierung, Jobverlust und Strafanzeige.
- Das Gros der Romanermittelnden ist männlich (obwohl in den letzten Jahren zunehmend Ermittlerinnen auftreten). Miss-Marple-Figuren sind dagegen bis auf wenige Ausnahmen weiblich.
- Tauchen BKA-, LKA-Ermittelnde, FBI-Agents o. ä. bei den „normalen“ Ermittlungsteams auf, sind diese arrogant und besserwisserisch und es gibt ein entsprechendes Kompetenzgerangel. Die BKA-, LKA-, FBI-Leute etc. sind fast immer die inkompetenten Deppen vom Dienst, die oft genug alles verschlimmbessern oder die Ermittlungen sogar beinahe scheitern lassen, und die Provinztypen können grundsätzlich alles besser.
- In dieselbe Kerbe schlägt auch umgekehrt folgendes Klischee. Großstadtermittlerinnen/-ermittler sind auf Urlaub in einem idyllischen Kleinstädtchen oder Dorf. Dort passiert ein Mord und die Großstadtpflanzen übernehmen selbstverständlich die Ermittlungen, weil die Dorfpolizei dazu zu dämlich ist und ohne Hilfe aus der „Großen Stadt“ die Ermittlungen allein nicht gebacken bekommt. Fernab jeder Realität.
- Kommt jemand neu in ein Ermittlungsteam und wird jemandem als Partnerin/Partner zugeteilt (was der/die „Alteingesessene“ gar nicht wollte), kracht es erst mal gewaltig zwischen ihnen, aber am Ende raufen sie sich zusammen. Handelt es sich um ein gemischtgeschlechtliches Team, verlieben sie sich ineinander; spätestens am Ende des Romans/einer Serie.
- Miss (seltener Mister) Marple ist immer erheblich schlauer als selbst die beste Polizei mit allen ihren Analysemöglichkeiten und ihrer Spezialausbildung sowie Spezialausrüstung. Und selbstverständlich finden die Laienermittelnden alle Spuren und Hinweise, die die Trottel von Profis reihenweise übersehen haben. Immer.
- Der Mörder/die Mörderin hatte eine üble Kindheit mit misshandelnden Eltern(teilen). Je kaputter die Person, desto übler die Kindheit.
- Tötet der Mörder reihenweise Frauen, ist in ca. 99 % der Romane seine Mutter die Ursache.
- Tötet eine Frau reihenweise Männer, rächt sie sich an denen stellvertretend für eine Vergewaltigung oder Missbrauch als Kind.
In Fantasyromanen:
- Die (alten) Zauberer – männlich – wissen und können fast alles. „Allwissende“ Zauberinnen kommen selten vor. Falls doch, sind sie meistens „böse“.
- Die Elfen sind entweder die edlen Weisen (und die tollen Bogenschützen) oder arrogant und gefühlskalt bis zur Grausamkeit.
- Schwertschwingende Amazonen sind immer leicht bekleidet (sofern sie Menschen sind) und männerfeindlich, bis der Richtige kommt, welcher selbstverständlich der Held ist.
- Trolle und Orks sind strohdumm und gewalttätig.
- Der (männliche) Bösewicht ist ein mehr oder weniger „dunkler Herrscher“, der aus purer (unbegründeter bzw. charakterbedingter) Bösartigkeit die Welt erobern und alles Gute zerstören will.
- Der Held (fast nie eine Heldin) rettet die Welt im Alleingang. Etwaige Gefährt/innen assistieren ihm nur bzw. halten ihm den Rücken frei.
- Heldin/Held sind „unkaputtbar“. Auch die schlimmsten Verletzungen überleben sie selbstverständlich – notfalls mit einem Wunderzauber – und machen selbst dann noch weiter, wenn normale Menschen längst tot wären.
In Science-Fiction-Romanen:
- Die Menschen sind die Supertypen und retten die Welt, wenn nicht gleich das ganze Universum („Rex Corda – Retter der Erde“, „Perry Rhodan – Retter des Universums“).
- Die menschlichen Helden (nur selten Heldinnen, obwohl sie langsam aufholen) sind selbstverständlich jedem Alienvolk überlegen, auch wenn es zunächst den Anschein hat, dass die Aliens den Sieg davontragen.
- Und selbstverständlich haben die Friedlichen unter den Aliens nur darauf gewartet, dass die Menschen kommen und ihre Welt retten, weil sie selbst dazu nicht in der Lage sind.
- Die Kommandanten der Raumschiffe sind fast immer Männer (auch hier holen die Frauen nur langsam auf).
- Je höher der Rang der Vorgesetzten, desto dämlicher, arroganter, rechthaberischer benehmen sie sich, sodass der „kleine“ Captain zu Eigenmächtigkeiten „gezwungen“ ist, um die Welt vor den kurzsichtigen Fehlentscheidungen der Kommandoebene zu bewahren. (Und man fragt sich, wie diese idiotischen Deppen überhaupt zu ihrem hohen Rang gekommen sind, wo sie offenbar nichts können.) Wofür er am Ende mit einem Klaps auf die Finger davonkommt, falls er überhaupt für seine Befehlsverweigerungen und Eigenmächtigkeiten bestraft wird.
- Die Heldinnen/Helden – egal wie jung und durchschnittlich intelligent sie sind – sind selbstverständlich schlauer als ihre erheblich erfahreneren Vorgesetzten oder dienstälteren und ranghöheren Crewmitglieder.
- Forschende sind skrupellos und verantwortungslos und machen alles, was machbar ist, ohne Rücksicht auf Verluste oder einen einzigen Gedanken an die Folgen.
- Die (gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen) Mahnenden werden ignoriert, rausgeworfen, eingesperrt oder diskreditiert, bis es (fast) zu spät ist und dann selbstverständlich nur noch sie die Welt retten können und die vorherigen Ignoranten deswegen bei ihnen zu Kreuze kriechen (müssen).
In allen Genres (außer Fantasy und SF):
- Banker, Manager, Firmenchefs etc. sind die gleichgültigen, nur auf Profit bedachten Egoisten, die über Leichen gehen, wenn sie dafür einen Vorteil/Gewinn ergattern. (Bei der Fernsehserie „Bad Banks“ kam zum ersten Mal eine Frau mit den gleichen Eigenschaften vor.)
- Die Familienpatriarchen sind die herrschsüchtigen Arschlöcher, die a) die Söhne bevorzugen und den Töchtern kaum etwas zutrauen, b) auf überkommenen Traditionen beharren und c) Söhnen, Töchtern und erst recht der Ehefrau nicht den geringsten Geschäftssinn zutrauen. Deshalb hat mindestens ein (erwachsenes) Kind die Flucht ergriffen, welches sich im Verlauf der Geschichte bei der in der Regel unfreiwilligen Rückkehr als Retter (seltener Retterin) der Firma, des Erbes etc. entpuppt.
- Kehrt die Hauptfigur nach längerer/langer Abwesenheit an den Ort ihrer Kindheit/Jugend zurück, wird sie wegen irgendeines Vorkommnisses aus der Vergangenheit angefeindet, bedroht und/oder eines Verbrechens beschuldigt, das sie (bzw. ihre Eltern) selbstverständlich nicht begangen hat. In der Regel geht es um (verspätete) Rache für eine Vergewaltigung, um ein Erbe oder sonstige materielle Güter, um die die Hauptperson oder ihre Eltern betrogen wurden, um alte Naziverbrechen oder einen noch ungesühnten Mord. Alternativ: Die Hauptperson rettet das Dorf, das ohne ihr inzwischen reichlich vorhandenes Geld das Nachsehen hätte.
- Kommen Zwillinge vor, ist das Verwechslungsspiel programmiert. Je nach Genre ist einer entweder der böse Zwilling (= ein bei der Geburt getrenntes und später von verschiedenen Eltern adoptiertes Paar) oder beide machen gemeinsame Sache bei einem Verbrechen, weil niemand an zwei Orten gleichzeitig sein kann. In Liebesromanen oder Humoresken beliebt ist der Zwillingstausch wie bei „Das doppelte Lottchen“.
- Die Frauen der High Society sind immer bestens gekleidet und tragen sogar in ihrer Freizeit zu Hause High Heels und teure (Designer)Kleider.
- Die „oberen Zehntausend“ wohnen in riesigen Villen und haben Hauspersonal, das sie wie Dienstboten behandeln. In den Villen steht garantiert irgendwo ein Flügel oder Klavier (als ob man sich automatisch fürs Klavierspielen oder überhaupt selbstverständlich klassische/s Musik/machen begeistert, nur weil man eine Menge Geld hat).
- Alle „Reichen“ sind auch immer schön, sofern sie nicht die „Bösen“ sind und deshalb klischeemäßig „hässlich“ dargestellt werden. Fernab jeder Realität. Wenn man sich die realen Reichen einmal betrachtet, stellt man fest, dass die meisten von ihnen durchschnittlich aussehen. Viele reiche Männer sind sogar ausgesprochen dick. Die Frauen der reichen Männer tragen zwar häufig schöne Kleider, aber ohne Schminke im Gesicht und ab einem gewissen Alter auch Schönheits-OPs sehen sie genauso durchschnittlich aus wie die Mehrheit der Bevölkerung. Sind die Frauen aus eigener Kraft = Arbeit reich, werden sie oft sogar als herb aussehend dargestellt, weil sie eben für ihr Geld zu arbeiten haben und ihnen die Zeit fehlt, sich toll aufzudonnern.
- Arbeitslose sind grundsätzlich wenig(er) gebildet bis gänzlich ungebildet, und Hartz-IV-Empfangende sind sowieso der arbeitsscheue Bodensatz der Gesellschaft.
- Ausländische Personen oder Einheimische mit Migrationshintergrund kommen in leitenden Positionen fast nicht vor (völlig realitätsfremd).
- Männer südländischen oder osteuropäischen Ursprungs sind besitzergreifende Machos.
- Reiche Männer bilden sich ein, mit ihrem Geld alles kaufen zu können.
- Putzfrauen laufen in Kittelschürzen herum und sind meistens ungebildet bis dumm und/oder ausländischer Herkunft.
- Models – weibliche wie männliche – haben nur einen tollen Körper, aber kein Herz und sind oberflächliche Egomanen. (Ich kenne keinen Roman, in dem ein Profi-Model der/die positiv besetzte Hauptperson ist; was nicht heißt, dass es keinen gibt.)
- Das Dummchen vom Dienst ist blond (und weiblich).
- Die IT-Fachleute (egal ob männlich oder weiblich) sind fast immer soziophobe Nerds und haben oft genug auch noch Asperger (Sonderform des Autismus) oder waren/sind kriminelle Hacker, bevor sie geläutert wurden/werden.
- Jede Sekretärin hat auf der Arbeit genug Müßiggang, um sich stundenlang die Nägel zu feilen (wie unhygienisch und unappetitlich!) oder Dauertelefonate mit der Freundin zu führen.
- Die Starköche und Stardesigner sind Männer, obwohl 99 % der schneidernden und kochenden Bevölkerung weltweit Frauen sind.
- Restauranteigentümer, Firmeneigentümer, Firmengründer etc. sind männlich, obwohl gerade bei den Firmengründenden der Anteil der Frauen von gegenwärtig ca. 30 % seit Jahren stetig steigt. (Laut Statistik scheitern diese Frauen mit ihren Firmen erheblich seltener als Männer.)
- Figuren, die in technischen oder wissenschaftlichen Berufen brillieren, sind immer noch überwiegend Männer.
- Frauen in „Männerberufen“ werden wahlweise als einsam, frustriert, unsympathisch hart, kühl bis kalt, egoistisch, arrogant und fast immer unverheiratet dargestellt; manchmal alles zusammen. Ein Paradebeispiel sind die Romane von Kathy Reichs um die Anthropologin Temperance Brennan oder die daraus entstandene Filmserie „Bones“. „Bones“ Brennan ist eine brillante Wissenschaftlerin, wird aber (besonders im Film) als emotional „minder bemittelt“ dargestellt, die mit zwischenmenschlichen Beziehungen immense Probleme hat.
- Kampfsport treibende Frauen werden als männerfeindlich oder „unweiblich hart“ dargestellt oder sind lesbisch oder werden als „unglaubwürdig“ empfunden, wenn sie aufgrund ihrer Ausbildung einen Mann mit links in die Schranken weisen.
- Söldnertruppen bestehen aus Männern. Selten, aber langsam häufiger, kommt eine Alibifrau vor.
- Hausarbeit und Kindererziehung ist „Frauensache“. Entsprechend müssen auch literarische Frauenfiguren permanent einen Drahtseilakt zwischen Beruf und Familie hinlegen, wobei das Privatleben/die Freizeit weitgehend auf der Strecke bleibt.
- Die Alleinerziehenden sind fast immer Frauen (entspricht der Realität) und immer überfordert (sachlich falsch), und alle geschiedenen Frauen sind todunglücklich und auf der Suche nach dem nächsten Mann. (Real sind die meisten Geschiedenen froh, endlich frei zu sein.)
- Frauen wollen unbedingt einen Mann und heiraten (keineswegs nur in Liebesromanen). Männer wollen Sex/eine Affäre.
- Ein Mann, der Sex liebt und entsprechend wechselnde Partnerinnen hat, ist ein toller Hecht und wegen seiner Erfahrung ein begehrenswerter Mann. Eine Frau, die Sex liebt und wechselnde Partner hat, wird immer noch als „liebestoll“, krankhaft nymphoman oder sogar als „Hure“ disqualifiziert. Erst recht ist sie in der Regel nicht die Heldin der Geschichte. Falls doch, ist sie „krank“ und deshalb promiskuitiv und muss vom Helden „geheilt“ werden.
- Durch Vergewaltigung traumatisierte Frauen sind schlagartig von ihrem Trauma geheilt, sobald sie dem „richtigen“ Mann begegnen und können dann ohne vorherige Therapie den Sex genießen, als wäre nie etwas gewesen. (Solche Darstellungen sind ein Schlag ins Gesicht jedes realen Vergewaltigungsopfers!)
- Frauen müssen von Männern gerettet werden (leider auch noch in heutigen Romanen/Storys), sei es aus einer Gefahr oder aus irgendeiner „Alltagsbredouille“ (weil sie ja nicht wissen, wie man mit einer Bohrmaschine, einem Schraubendreher oder sonstigem Werkzeug umgeht).
- Die Schurken sind fast ausschließlich männlich. Frauen brillieren allenfalls als perfide Intrigantinnen. Allerdings holen auch hier die Frauenfiguren langsam auf.
- Und besonders in der Mehrheit der Kinderbücher erleben immer noch die Jungs die spannenden Abenteuer (selbst die Mehrheit der tierischen Helden ist männlich!), die Mädchen spielen Zickenkrieg, sind Prinzessin, besserwisserische Schlaumeierinnen, haben überdurchschnittlich häufig Mode im Kopf, sind auf ihr Äußeres/ihre Wirkung nach außen bedacht, Nervensägen und allzu oft dumm. Filme wie „Merida“ oder Bücher wie „Die Tribute von Panem“ sind immer noch die Ausnahme, obwohl ihre Zahl langsam zunimmt.
Klischees haben ihren Ursprung durchaus in der Realität. Alle oben beschriebenen Dinge (außer Aliens und Fantasygestalten) gibt es tatsächlich. Doch sie sind nicht die Regel, zu der die Klischees sie stilisiert haben. Weil sie inzwischen sattsam ausgelutscht sind, sollten wir darauf achten, sie zu vermeiden. Die meisten Lesenden wünschen sich frische, unverbrauchte und vor allem authentische Charaktere als Hauptfiguren, keine Abziehbilder, die es schon in Hunderten anderer Bücher gibt.
Manch eine/r hat beim Lesen der Listen von Klischees vielleicht einen Schreck bekommen, weil man eine eigene Story oder einen Roman mit einem oder mehrerer dieser Klischees geplant/entworfen/im Sinn/geschrieben hatte. Nun steht man bei der Fülle von Klischees (mehr oder weniger verzweifelt) vor dem Problem, wie man diese wahrhafte (und immer noch unvollständige) Fülle von Klischeefallen umgehen und etwas Originelle(re)s erschaffen kann.
Die Lösung ist gar nicht so schwer. Dafür haben wir folgende Möglichkeiten:
- Wir bürsten die Klischees „gegen den Strich“ = kehren die Chose um. Das funktioniert bei allen Genres. Lassen wir die Zwillinge individuell sein, sich auch so kleiden und auf Verwechslungsspiele verzichten („Wir sind doch keine Kinder mehr!“). Lassen wir Schwiegereltern und Schwiegerkinder ein Superverhältnis zueinander haben, die BKA-Leute kompetent und bescheiden, die Sekretärin der Realität entsprechend intelligent und die organisatorische „Rettung“ der Chefin/des Chefs sein. Verzichten wir auf unrealistische (!) „Miss/Mr. Marples“ oder lassen wir Elfen böse und Aliens die Guten sein.
- Wir variieren das Bekannte. Lassen wir im Liebesroman nicht den ersten mehr oder weniger tollen Mann den sein, in den sich die Heldin verliebt (es darf aber gern zunächst so scheinen!), sondern lassen wir diesen den „Irrtum“ sein, auch wenn er supernett ist (selbst der netteste Mensch passt nicht unbedingt als Partner/Partnerin zu allen anderen, nur weil er/sie nett ist) und die zunächst unscheinbare/uninteressante „Zweitbesetzung“ zum Mann/Frau der Träume aufsteigen. Lassen wir im Krimi den Täter, den alle für unschuldig halten, den Schuldigen sein (und schildern wir spannend, wie das Ermittlungsteam sich die Seele aus dem Leib ermittelt, um eben das zu beweisen). Erfinden wir bei Fantasy und Science Fiction neue „Völker“ oder lassen wir eine Spezies, die sonst selten bis nie in Literatur und Film eine Rolle spielt, die Hauptfiguren unserer Geschichte sein (z. B. Zentauren, Greife, Satyrn oder Wer-Tiger statt Werwölfe). Hier haben wir zusätzlich die Möglichkeit, Wesen, die normalerweise (klischeemäßig) negativ oder als „die Bösen“ dargestellt werden, zu „rehabilitieren“ und sie zu Ihren Heldinnen/Helden zu machen.
- Überraschen wir die Lesenden durch unvorhersehbare Wendungen in der Handlung, die alle Klischees ad absurdum führt.
Oft genügen kleine Veränderungen, um etwas Bekanntes neu erscheinen zu lassen. Experimentieren wir und lassen wir unserer Fantasie freien Lauf. Nutzen wir die sich dadurch bietenden Möglichkeiten, um unverbrauchte, klischeefreie und entsprechend interessante Frauen- und Männerfiguren zu erfinden. Und am Ende staunen wir darüber, was für interessante Figuren durch den Verzicht auf Klischees in unserer Geschichten entstehen.
In der nächsten Folge:
Der Name, eine Wissenschaft für sich
In weiteren Folgen:
- Figurennennung im Text
- Die Namensliste, Personenregister
- Der Charakter
- Die Ausdrucksweise
- Handlungsmotive
- Glaubhafte Reaktionen/Handlungen
- Die „Personalakte“
- Die Hauptfigur und ihr Gegenpart
- Nebenfiguren
- Broken Hero, der „gebrochene Held“