Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere
Kluge Hinweise von Mara Laue
Teil 8: Motive und glaubhafte Reaktionen
Ebenso wichtig wie der Charakter ist das Handlungsmotiv der einzelnen Personen. Das gilt nicht nur für das Motiv, das den Verbrecher bewegt hat, eine Straftat zu begehen, sondern bezieht sich auch auf scheinbar banale Dinge: Warum die Kommissarin Angst vor Höhlen hat oder wieso sich der Held zutiefst gekränkt fühlt durch die harmlose Bemerkung, er habe wohl gestern zu viel gefeiert, weil er heute eine Stunde zu spät zur Arbeit kommt. Natürlich ist das besonders wichtig für Motive, die zu einem Verbrechen führen. Um die schlüssig zu erklären (speziell beim Genre Psychothriller) müssen wir unter Umständen erst einmal intensiv über die Psyche des Menschen recherchieren, um glaubwürdig schreiben zu können. Die Frage „Warum tut er/sie das, hat sie/er das getan?“ muss für die Lesenden spätestens am Ende der Geschichte/des Romans schlüssig und vor allem überzeugend beantwortet werden und das Motiv logisch nachvollziehbar sein.
Jedoch neigen Menschen dazu, die Handlungen anderer Personen fast immer nur auf dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen, ihres eigenen Charakters, ihrer eigenen Ansichten und Meinungen zu beurteilen. Verhaltensweisen und besonders auch Motive, die in ihrem eigenen Erfahrungsschatz nicht vorkommen, halten manche Lesenden generell für unglaubhaft. Deshalb ist es wichtig, ihnen das Handlungsmotiv zu erläutern.
Dafür stehen uns, je nach Genre und Romansituation, mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. Wir können das in einem Dialog mit einem Freund oder einer Psychiaterin durchblicken lassen, unsere Figur jemandem einen erläuternden Brief schreiben lassen (zum Beispiel einen Abschiedsbrief), den Antagonisten in einem inneren Monolog reflektieren lassen, warum er den Helden hasst, oder die Kommissarin während der Ermittlungen das Motiv dafür aufdecken lassen. Auch der Bericht eines Freundes oder einer Angehörigen der Person, die jemandem das Motiv erklären, ist eine probate Möglichkeit.
Nur eines sollten wir niemals tun: den Lesenden das Motiv außerhalb einer Handlung erklären. Die Beschreibung des Motivs immer in eine Handlung eingebettet sein.
Katja wollte Viktors Existenz zerstören, um sich dafür zu rächen, dass er eine andere Frau geheiratet hatte.
Hier erklärt die Autorin/der Autor den Lesenden zwar das Motiv, aber es klingt platt, uninteressant, spannungslos und für manche wenig nachvollziehbar. Decken wir Katjas Motiv anders auf:
Viktor starrte sie fassungslos an. „Du warst das? Du hast mir diesen Betrug untergeschoben, damit ich meinen Job verliere? Mein Gott, ich wäre beinahe im Gefängnis gelandet deswegen! Die Presse hat mich fertiggemacht. Mein Ruf ist ruiniert! Und obendrein hast du noch meiner Frau diese gefälschten Fotos zugespielt, die den Eindruck erwecken, ich hätte was mit einer Sechzehnjährigen, die meine Tochter sein könnte.“ Er schüttelte den Kopf. „Warum, Katja? In Gottes Namen, warum?“
Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, in der sich abwechselnd Hass und Genugtuung spiegelten. „Das fragst du noch, du Mistkerl?“ Sie lachte; es klang bösartig. „Ich habe dir alles genommen, damit du weißt, wie sich das anfühlt, von einem Moment auf den anderen alles zu verlieren, woran dein Herz hängt. Damit du am eigenen Leib erlebst, wie ich mich gefühlt habe, als du mich wegen deiner blöden Schickimickitussi abserviert hast, die du doch nur wegen ihres Geldes geheiratet hast. Ich hatte alles für dich aufgeben. Alles! Meinen Job, meine Wohnung, meine Heimat, um bei dir zu sein und mit dir zu leben. Und was hast du getan?“ Sie fletschte die Zähne, ehe sie losbrüllte: „Du hast meine Liebe mit Füßen getreten!“
Schlagartig wurde sie ruhig, aber das empfand Viktor als noch bedrohlicher als ihre Wutausbrüche. Er trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Sie lachte wieder.
„Ich nehme an, du hast jetzt begriffen, was du mir angetan hast. Du bist jedenfalls erledigt. Und ich hoffe, dass dein Leid niemals endet und du bis in alle Ewigkeit nicht darüber hinwegkommst.“
Hier wird das Motiv erheblich nachvollziehbarer. Katja fühlt sich von Viktor betrogen und zutiefst verletzt. Durch ihre in unseren Augen überzogene Reaktion wird zudem erkennbar, dass sie durch seine Zurückweisung psychisch völlig aus der Bahn geworfen wurde und aufgrund dessen nicht mehr rational handelt. Dadurch können wir auch nachvollziehen, warum sie in der Wahl der Mittel für ihre Rache erheblich über das Ziel hinausgeschossen ist und sogar Straftaten begangen hat, nur um Viktor zu ruinieren. Eine in sich gefestigtere Persönlichkeit hätte die Episode mit Viktor als zwar schmerzhafte Erfahrung verbucht, aber nach vorn geblickt und sich nach der Bewältigung ihres Trennungsschmerzes neu orientiert.
Deshalb kann nicht genug betont werden, dass Motive immer individuell sind und sich aus dem Charakter der Person und ihren bisher gesammelten Lebenserfahrungen ergeben. Das müssen Sie als Autorin/Autor stets im Auge behalten, um die Handlungen Ihrer Figuren den Lesenden schlüssig zu erklären.
Glaubhafte Reaktionen und Handlungen
Ebenso wichtig ist, dass wir die Reaktionen unserer Figuren auf die jeweilige Situation möglichst realistisch und vor allem glaubhaft beschreiben. Das gilt selbstverständlich auch für alles, was Ihre Figuren tun.
Nehmen wir an, wir haben in Ihrem Ferienhaus eingecheckt und finden beim Einräumen der Nachttischschublade darin einen fremden Autoschlüssel. Wir nehmen ihn, gehen auf die Straße und marschieren der Reihe nach die dort geparkten Autos ab, während Sie beständig auf den Entriegelungsknopf des Schlüssels drücken, um herauszufinden, zu welchem Wagen der Schlüssel gehört. (Und finden in dem, der auf den Schlüssel reagiert, eine Leiche.) – Würden wir das wirklich tun? Gewiss nicht. Wir würden den Ferienhausbesitzer/die Vermieterin informieren, dass wir einen Autoschlüssel gefunden haben und man ihn abholen möge.
Eine Nachbarin, die wir kaum kannten, ist überraschend gestorben. Im Lokalteil der Zeitung ist zu lesen, dass die Polizei von einem natürlichen Tod ausgeht. Aber weil wir ab und zu eine uns zwielichtig erscheinende Gestalt die Nachbarin haben besuchen sehen, vermuten wir ohne jeden konkreten Anlass, dass diese Person die Nachbarin ermordet haben könnte. Um uns Gewissheit zu verschaffen, schnüffeln wir im Umfeld der Nachbarin, um den mutmaßlichen Mörder zu überführen. – Würden wir das wirklich tun? Garantiert nicht! Falls wir tatsächlich einen guten Grund haben zu glauben, dass der Tod der Nachbarin doch nicht natürlich gewesen sein könnte, werden wir die Polizei über unseren Verdacht informieren und die Ermittlungen denen überlassen.
Ein sehr beliebter Fehler, den auch Profis immer wieder begehen und der leider wieder und wieder anstandslos so veröffentlicht wird, ist, dass die Bösewichte in einem Anfall geistiger Umnachtung (anders ist diese Idiotie nicht zu erklären) den Hauptfiguren persönlich voller Stolz offenbaren, welche Schwachstellen sie selbst oder ihre Superwaffen haben oder wo sie versteckt sind und wie man sie vernichten kann. Meistens geschieht das in einer Situation, wo sich die Heldinnen/Helden in der Gewalt der Schurken befinden oder diese glauben, erst noch großartige Erklärungen abgeben zu müssen, bevor sie die Heldinnen/Helden hinrichten, statt sofort – was logisch wäre – zuzuschlagen und sie zu töten. Hier benutzen die Schreibenden die Situation, um den Hauptfiguren entweder die wichtige Information zu geben, wie man die Welt in letzter Sekunde noch retten kann, oder um der Kavallerie genug Zeit zu geben, die Hauptfiguren noch zu retten – natürlich in allerletzter Sekunde. Bitte nicht SO! Gerade wenn es sich bei den Hauptfiguren um Leute mit Kampf(sport)erfahrung, Polizei oder Leute im Geheimdienst handelt, ist die Gefahr viel zu groß, dass die auf den letzten Drücker noch einen Dreh finden, um die Schurken fertigzumachen, wenn man sie nicht sofort erschießt oder anderweitig um die Ecke bringt. Aber, verdammt, das wissen natürlich auch die Schurken, weshalb sie nie im Leben ein solches Risiko eingehen würden!
Wenn wir also unseren Hauptfiguren die Info zur Rettung der Welt geben oder sie selbst vorm Tod durch die Schurken retten wollen, dann müssen wir das logisch fundiert und glaubhaft nachvollziehbar tun. Nichts, aber auch gar nicht spricht dagegen, dass die Heldinnen/Helden sich die Weltrettungs-Info selbst erarbeiten und bei der Konfrontation mit den Schurkinnen/Schurken selbst in der Lage sind (gern so dramatisch wie möglich!), sich aus der Bredouille zu winden. Im Gegenteil trägt gerade das mühsame Herausfinden der Lösung (mit immer neuen Rückschlägen) sehr zur Spannungssteigerung bei.
Und zur Vermeidung von (weiteren) Klischees ist es nicht verkehrt, wenn die Rettung nicht buchstäblich auf die letzte Sekunde erfolgt, sondern Stunden oder einen Tag vor Ablauf der ultimativen Frist. Wenn wir unseren Job als Autorin/Autor gut machen, ist das keinen Deut weniger spannend.
Um unsere Figuren realistisch reagieren und handeln zu lassen, sollten wir immer den „Realitäts-Check“ machen: Fragen wir uns bei allem, was wir unseren Figuren auf den Leib schreiben wollen, ob WIR an deren Stelle so handeln, so reagieren würden. Natürlich vorausgesetzt, wir hätten denselben Beruf und dieselben sonstigen Fähigkeiten wie sie. Lautet die Antwort Nein, dann sollten wir auch unsere fiktiven Charaktere nicht so handeln lassen. Sie werden dadurch unglaubwürdig und wirken manchmal sogar lächerlich. Sollten wir dennoch einmal eine Figur „unnormal“ reagieren lassen, müssen wir das den Lesenden glaubhaft begründen, damit sie dieses ihnen Unnormale nachvollziehen können.
In der nächsten Folge:
- Die „Personalakte“
In weiteren Folgen:
- Die Hauptfigur und ihr Gegenpart
- Nebenfiguren
- Broken Hero, der „gebrochene Held“