Spannung, zart kbribbelnd ...

Von der Kunst des Prosaschreibens – Spannungserzeugung 7

von Mara Laue

Spannung halten und retardierendes Moment

In den vergangenen Folgen ging es darum, wie man Spannung aufbaut bzw. steigert. Hier sind die gängigsten Tricks, mit denen wir sie auch halten können.

  • Wir lassen unsere Hauptfiguren nicht zur Ruhe kommen (außer am Schluss). Werfen wir ihnen Steine, Hindernisse und Schwierigkeiten in den Weg, und zwar immer dann, wenn sie (und die Lesenden) glauben, es jetzt endlich geschafft zu haben und sich ausruhen zu können.
  • Wir streichen alle Szenen/Handlungen aus dem Text, die nicht zwingend erforderlich sind für die Fortführung der Handlung oder die Entwicklung der Charaktere. Beispiel: Eine Beschreibung eines One-Night-Stands, auf den die Hauptfigur sich einlässt, ist überflüssig (und mag sie noch so interessant, amüsant, aufregend sein), wenn ihr daraus nicht irgendwelche für die Handlung wichtigen (!) Konsequenzen erwachsen (Ausnahme: erotische Romane/Storys).
  • Wir erzählen die Handlung nicht linear oder nur aus einer einzigen Perspektive, sondern wechseln Perspektive, Orte und, wo es passt, auch die Zeit, in der die Handlung spielt. Eine Rückblende wirkt besser, wenn sie in Form einer Tagebucheintragung, eines alten Briefes oder Zeitungsartikels geschieht (sofern das ins Konzept passt), als wenn sie nacherzählt wird. Lassen wir die Lesenden ruhig auch mal in den Kopf der Antagonistinnen/Antagonisten blicken.
  • Wir gestalten den Text lebendig (Stichwort „Show, don’t tell!“), sodass er die Sinne der Lesenden anspricht und sie in die Handlung hineinzieht.

Das retardierende Moment

Obwohl es Ausnahmen gibt, bestehen doch selbst die spannendsten Romane nicht ausschließlich aus Szenen, die die Spannung schüren oder neue aufbauen. Zwischendurch ruhen sich die Heldinnen/Helden auch mal aus. Das dürfen wir in unseren Texten gern schildern, aber nur, wenn diese Ruhephase entweder (wichtige!) Informationen transportiert oder den Grundstock für einen neuen Konflikt/einen neuen Handlungsstrang legt oder der Entwicklung des Charakters unserer Figuren dient.
Das kann in Form eines inneren Monologs geschehen, in dem sich die Heldin Gedanken über ihr weiteres Vorgehen macht oder ihr durch das Nachdenken wichtige Erkenntnisse dämmern. Es kann sein, dass das Telefon klingelt, sie sich aber aus Müdigkeit entscheidet, das Gespräch nicht anzunehmen oder es nicht annehmen kann, weil sie in der Badewanne sitzt. Aus diesem verpassten Gespräch entsteht später ein neues Problem, ein neuer Konflikt. Oder der Held verarztet seine Wunden und gibt den Lesenden dadurch die für eine spätere Szene wichtige Information über das Ausmaß seiner Verletzungen, die ihn in einem entscheidenden Moment behindern werden.

Solche ruhigen, scheinbar ereignislosen Szenen nennt man „retardierende Szenen“ oder „retardierende Momente“. Der Begriff stammt vom französischen „retard“, was Verzögerung, Verlangsamung bedeutet, denn in diesen Szenen wird das Tempo der Handlung zurückgeschraubt. Ich betone: scheinbar ereignislose Szenen, denn – siehe oben – auch solche Szenen müssen einen Grund haben. Eine Szene, in der womöglich seitenlang beschrieben wird, welche Anwendungen sich die Heldin in der Wellness-Oase geben lässt, um sich von den Strapazen zu erholen, ohne dass die in irgendeiner Form zur Entwicklung der Handlung beiträgt, ist schlichtweg überflüssig. Deshalb nennt man solche Einschübe „Füllszenen“ oder „Füllkapitel“, die den Text unnötig aufblähen, das Fortschreiten der Handlung verhindern und deshalb gestrichen werden müssen.

Auch wenn das auf den ersten Blick paradox erscheint, so brauchen gerade Spannungsromane retardierende Passagen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Wenn die Heldinnen/Helden „nonstop“ von einer Spannung zur nächsten jagen, nutzt sich die Spannung ab, d. h. sie wird von den Lesenden nicht mehr bzw. zunehmend weniger als aufregend empfunden, als wenn das „Tempo“ der Ereignisse und der Spannung zwischendurch auch mal eine Pause einlegt. Man gewöhnt sich auch an Spannung. Und wie bei jeder Gewöhnung wird das ursprünglich Besondere (hier die Spannung) zum Alltäglichen, Gewöhnlichen, wenn wir es überstrapazieren. Deshalb sind retardieren Passagen in Spannungsromanen unerlässlich. In Kurzgeschichten dagegen töten sie die Spannung, was an der Kürze des Textes liegt.
Retardierende Momente/Szenen eignen sich hervorragend dafür, um Nebenhandlungen/Nebenplots unterzubringen. Sollen sich in einem Spannungsroman die beiden Hauptfiguren näherkommen, sich vielleicht sogar verlieben, sind diese Momente der passende „Ort“, um dafür den Grundstein zu legen, auf dem die spätere Liebe aufbaut, z. B. mit einem ersten Kuss. Ein Kuss mitten im Schlachtgetümmel, wenn um die beiden herum die Pfeile schwirren oder die Kugeln fliegen, wäre nicht nur unpassend, sondern auch komplett unrealistisch. (Leider gibt es solche Szenen in allzu vielen Filmen und Büchern.)

Soll die bestehende Beziehung der Hauptfigur scheitern, sind die retardierenden Momente perfekt dafür geeignet, das zu thematisieren bzw. vorzubereiten und den entsprechenden Konflikt zu steigern (sofern das nicht das Hauptthema der gesamten Geschichte ist). Reflexionen der Hauptfigur über Probleme oder Beziehungen oder andere Dinge, die länger als nur zwei oder drei Sätze benötigen, passen ebenfalls in die Retardierung, sofern sie nicht an anderer Stelle inhaltlich zwingend erforderlich sind. Sollen genretypisch Dinge untergebracht werden, die nicht zur Entwicklung der Geschichte gehören (z. B. bei Genusskrimis die Beschreibung der Genüsse), ist hier die passende Gelegenheit dafür, ohne dass die Handlung unter der „Länge“ dieser Passage leidet (die an anderer Stelle tatsächlich das Fortschreiten der Ereignisse verzögern würde).

Wichtig ist auch, dass die Retardierungen an passenden Stellen platziert werden und sich niemals „aus heiterem Himmel“ ohne erkennbaren Anlass ereignen dürfen. Solche Anlässe sind z. B. der wohlverdiente Feierabend am Ende des Arbeitstages, der unfreiwillige Aufenthalt im Krankenhaus nach einer Verletzung, die Wartezeit im Vorzimmer einer Arztpraxis, die Fahrt in der Straßenbahn oder im Auto usw. Bei kurzen Retardierungen sind es das Stehen an der auf Rot geschalteten Ampel, in der Schlange an der Kasse oder das Warten im Restaurant, bis die Bestellung serviert wird oder weitere Gäste eintreffen.
Im Lauf der zunehmenden Schreiberfahrung entwickelt man ein Gespür dafür, wo eine retardierende Szene angebracht ist und wann nicht.

 

In der nächsten Folge:
Besonderheiten in Actionszenen

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