Waldwürzige Amselschwere

 

Kerstin Fischer: Spiegelglut. Gedichte, ATHENA-Verlag, Edition Exemplum, Oberhausen 2023, ISBN
9783745511475, 126 Seiten, Taschenbuch, 17,90 € (D)

Rezension von Alena Vogel

Gleich beim Aufschlagen der ersten Seite spürt man den Sog, der von Kerstin Fischers Dichtung ausgeht. Sprach- und bildgewaltig verflechten sich Szenerien miteinander, verschmelzen zu neuen Bildern wie Traumsequenzen und kommen dabei mal als romantische Sommernächte voller Sehnsucht, mal als triste Herbsttage daher – und als alles, was dazwischen liegt.

Kunstvoll verwebt Fischer Wörter zu ungewohnten, aber umso treffenderen Verbindungen mit einem starken Fokus auf dem Visuellen und lässt gängige Kollokationen neue, unerwartete Symbiosen eingehen.

Den Gedichten muss die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und Lesesorgfalt entgegengebracht werden. Auf keinen Fall sollte man zwischen Tür und Angel mehrere auf einmal verschlingen. Jeder einzelne Vers fordert das Innehalten, das Auseinandersetzen mit dem Gesagten förmlich ein und belohnt bei genauerem Hinsehen mit immer neuen Zwischentönen.

Wiederkehrende Elemente sind u.a. Farben, Zweige, Verflechtungen, Vögel, Reisen in ferne Länder, Räume und Gärten, Krankheit und Tod. Die Dichotomien zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen Licht und Schatten, Saat und Ernte, Nacht und Tag, Nähe und Ferne, Alltäglichkeit und Fremde sind oft schon bei ihrer Beschreibung im Begriff der Auflösung. Dann wieder werden auf erfinderische Weise Brücken zwischen vermeintlichen Kontradiktionen geschlagen.

Auch mit dem Schreibprozess an sich setzt Fischer sich auseinander und beschreibt ihn u.a. als Trost spendenden Vorgang des Flechtens bzw. Verknotens: „Meine Augen steigen ein Gebirge herab / und finden Ruhe in den weißen Tälern des Papiers. / Ich binde die Anfänge neuer Lichter / um die Enden meiner Wörter / und beginne“ (Love Letters), als Ertrag: „Ich ernte Schrift aus finsteren Gräbern, / um sie in Lichtsärge zu legen (…)“  (Lichtsärge), als Geburt:  „Ich laufe über die Seile zwischen den erdähnlichen Planeten / und warte in der Milchstraße auf die Geburt meiner Wörter“ (Die Nacht seerosenweit) und als Brücke zwischen Leben und Tod: „Ich schreibe Gedichte in den Januarschatten. / Er ist durch die Zimmer gewachsen, in der Nacht, / als die Rehe mir die Lebenslinie aus der Hand lasen“ (Die Wasserlilie). Dabei wird auch der Schmerz, der mit dem Schreiben einhergeht, nicht außen vor gelassen: „Ich zerbreche sanft … über dem Papier“ (Lila).

Fischers Sprache ist innovativ, ausdrucksstark, berührend und dabei gleichermaßen trennscharf wie nebulös. Wortneuschöpfungen wie „oleandersatt“ (Kriegsfeder. Vision I), „Bernsteinblicke“ (Sibiu. Vision I), „Taubenstille“ (Am Ende des Rots), „waldwürzig“, „Lichterbalz“ (Honigrot), „Wolkensüße“ (Mohnmund, gläsern) und „Amselschwere“ (Porträt schöner Aussicht) erinnern an Rainer Maria Rilke.

Einige meiner Lieblingsverse, die ich hier für sich sprechen lassen möchte:

„Ich pflücke Stunden wie Mirabellen und gebe ihnen mein Gelb. / An der Winterweide die Krähen. / Sie picken lange Nächte in den harten Boden.“ (Am Fenster)

„Der Tod kann nicht überall sein. Es muss mehrere von ihm geben.“ (Love Letters)

„Ich sammle die Blüten und trinke Lila. Es tropft auf das Papier, / als hätte ich mich geschnitten. Der Atem der Kiefer geht darüber hinweg. / Ich zerbreche sanft … über dem Papier.“ (Lila)

„In den Nächten krieche ich durch mein Traumverlangen. / Ich erwache in hellen Kissen. Das Blut ist längst gestillt mit Morgenröte.“ (Die Reise)

„Eine Spur Himmel fließt in meine Hand / und versiegt über dem Relief der Stadt.“ (Lyrik Noire)

„Ich fange die Wörter aus den Städten / und trockne sie in Wäldern.“ (Zeit der Winterfische)

Fazit: Wer Lyrik liebt, die mit der Doppeldeutigkeit von Wörtern und deren Klang spielt, die mit ihrer Bildhaftigkeit aus dem Alltag entführt und deren Wortschatz von Ideenreichtum zeugt, ist hier genau richtig! Absolute Leseempfehlung!

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