Was darf Satire?
Rezension von Dieter Feist
Martin Sonneborn, 99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2021, ISBN: 978-3-462-00214-0, 192 Seiten, €10,00 (D)
Vor reichlich hundert Jahren stellte Kurt Tucholsky die Frage: „Was darf Satire?“ Und gab in der nächsten Zeile die Antwort: „Alles.“
Er dachte damals vor allem an gedruckte Satire in Wort und Bild, vielleicht auch schon an die Bühne, die bald ein wichtiges Podium werden sollte. In jedem Fall ging er von einem begrenzten Kreis eines teilnehmenden Publikums aus, eine massenmediale Verbreitung lag kurz nach dem ersten Weltkrieg außerhalb jeder Vorstellungskraft.
Muss also angesichts heutiger Verhältnisse Tucholskys Frage anders beantwortet werden? Nein. Satire muss immer noch alles dürfen können, denn nach wie vor gilt: „Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.“ Und: „Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird…“
Martin Sonneborn ist ein Satiriker ganz in diesem Sinne, er übertreibt, er bläst die Wahrheit auf, ist ungerecht und vermutlich auch ein gekränkter Idealist. Er schrieb für verschiedene Magazine und vor allem seine „realen“ Aktionen fanden immer wieder mediale Verbreitung und Wirkung; mit seinen Auftritten als Politiker unterschiedlicher Parteien etwa führte er die Profillosigkeit von Wahlkämpfern vor und die Inhaltsleere von deren Kampanien. 2004 dann die Gründung der „PARTEI“ zur lustvollen Persiflierung der politischen Landschaft Deutschlands.
2014 wird Sonneborn als Abgeordneter ins Europa-Parlament gewählt. Der Satiriker verlässt die Position des Außenstehenden, der anklagend auf die Zustände deutet und betritt das wirkliche Leben. Natürlich eröffnen sich so hautnah mittendrin ganz neue Perspektiven, die genüsslich nach draußen kolportiert werden können („Bericht aus Brüssel“). Als Parlamentarier wird Sonneborn aber auch Mitglied diverser Ausschüsse und dort zum Mit-Träger politischer Entscheidungen. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob Satire nicht an ihre Grenzen stößt, wenn sie die Realität nicht mehr nur kritisch spiegelt, sondern aktiv an ihr teilnimmt.
Demgegenüber hält Sonneborns Buch die nötige Distanz der Außenansicht, wenn es auch offenbar die parlamentarischen Erfahrungen mit verarbeitet und so etwas sein soll wie das „PARTEI“-Programm. Es steht schon viel Beachtenswertes drin, Nachdenkenswertes und auch etliches Empörende: da geht es um politische Halbherzigkeiten, fragwürdige demokratische Gepflogenheiten, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, um Halbwahrheiten, Lügen und Euphemismen. Mitunter spricht aus den „99 Ideen“ nicht mehr Ironie oder Sarkasmus, sondern Wut. Parteienfinanzierung, Lobbyismus, Realitätsferne, gebrochene Wahlversprechen und zum Schluss der Wechsel von politischem Spitzenpersonal in die Chefetagen der Konzerne. Da hätte als Buchtitel statt der „Wiederbelebung der politischen Utopie“ auch die Wiederherstellung der politischen Kultur stehen können.
Auf den 185 Seiten – einschließlich der „33 Bonus-Tracks“ – geht es aber leider nicht nur um Brisantes, über das sich die Leserschaft gemeinsam mit dem wortmächtigen Autor entrüsten könnte, sondern auch um Trivialitäten. Idee Nummer 41, zum Beispiel, „288 Arten menschlichen Glücks“, oder Nummer 48, „Mehr Farbe in die Politik“, hinterlassen eher Ratlosigkeit.
Und es gibt noch ein paar andere Dinge, die in einem Buch, das politische Satire sein will, sauer aufstoßen. Dass der Name des ehemaligen Verkehrsministers Scheuer mit einer kleinen sprachlichen Wendung zu „bescheuert“ wird, wäre für eine einmalige Erwähnung lustig gewesen. Ihn das ganze Buch hindurch als „Andi B. Scheuert“ zu titulieren hat das Niveau eines Steppkes, der mit seinen immergleichen Frechheiten nach Zustimmung in seiner Grundschulklasse schielt. Mit zwölf, dreizehn Jahren hat sich das in der Regel erledigt; Sonneborn ist über fünfzig. Unreif. Weitere Beispiele: Chrissi Lindner, Frau von Strolch, Annegret „Scheiß-Doppelname“, Doofbrindt und Professor Habermaus. Gibt es da wirklich nichts Sachliches, an dem sich zu reiben wäre?
An anderer Stelle geht es um Äußerlichkeiten: „Wer […] Annalena Baerbock, Frau von Strolch oder Philipp Anthor nur von Plakaten kennt, könnte bei einem überraschenden Treffen in der Realität tödlich erschrecken. Besonders bei Anthor, der sieht tatsächlich so aus wie auf seinen Plakaten.“ Wer es für nötig befindet, sich über das Aussehen zu mokieren, hat mit Inhalten offenbar keine Probleme. „Nirgends“, schreibt Tucholsky, „verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.“ Und wenn es nur deren Frisur oder Brille ist.
Und Hanswurstigkeiten zeigen sich auch in der Sprache. Wie oft werden bissige Kommentare und berechtigte Anklagen durch sprachliche Albernheiten entwertet: „Wock! Zosch! Glinka!“ – „ZABADONG!“ – „Okidokiyeah!“ – „KAWUMMS“ – „Zwinkersmiley“. Das ist der Unterschied zwischen Comedy und Kabarett, zwischen harmloser Blödelei und politischer Satire. Das ist Hallervordenisierung; Wobei ich mich sofort bei Dieter Hallervorden entschuldigen muss: bei ihm weiß ich wenigstens, woran ich bin. Bei Sonneborn leider häufig nicht.
Schade um dieses Buch, das so viel Beachtenswertes, Nachdenkenswertes und auch Empörendes enthält. „Der deutsche Satiriker“, um Tucholsky ein letztes Mal zu bemühen, „tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß
recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend.“
Das steht noch aus, Herr Sonneborn. Aber ernsthaft.
Was darf Satire?
Alles.
Aber es muss schon auch Satire sein.