Wenn menschliche Ruinen wuchern
Rezension von Oliver Bruskolini
Lisa-Viktoria Niederberger, Misteln – Erzählungen, edition mosaik, Salzburg 2018, 1. Auflage, ISBN 978-3-9504466-3-0, Hardcover: offene Fadenbindung, 72 Seiten, € 8,00
Bis die Ausschreibung zu den Ruinen beendet ist und die neue Ausgabe erscheint, müssen noch einige Monate verstreichen. Umso schöner ist es, wenn man sich die Zeit mit einem Buch vertreiben kann, das auf das Thema einstimmt.
Lisa-Viktoria Niederberger liefert mit ihrem Erzählband Misteln ein fesselndes Buch, das durchaus vor dem Hintergrund der Ruinen, des Verfalls, des Kaputtseins gelesen werden kann. Es sind ihre Protagonisten, die so natürlich wirken, so natürlich in ihrem Lebensumfeld. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, welche Spuren von Zerstörung das Leben an ihnen hinterlassen hat.
Mit drei kurzen Erzählungen nimmt die Autorin den Leser vollauf in Beschlag. Besonders lobend zu erwähnen sind ihre bildliche, lebensnahe Sprache und die Perspektivenwechsel, die dazu beitragen, dass die Erzählungen spannende und unvorhergesehene Wendungen nehmen.
Lisa-Viktoria Niederberger erzählt nicht nur, sie lädt ein. Sie lädt dazu ein, über Biografien nachzudenken, über Beziehungen und die Abgründe, die hinter den Fassaden schlummern. Das schafft sie, indem sie geschickte Leerstellen lässt, die der Leser besetzen kann und mit denen er die kurzen Erzählungen vor seinem geistigen Auge zu einem vollständigen Roman ausbaut.
Es ist eine Kunst, tiefgreifende und komplexe Sachverhalte kurz zu schildern. Die Autorin beherrscht sie. Wer sich die Zeit bis zur neuen Ausgabe mit menschlichen Ruinen verkürzen möchte, der ist mit Misteln gut beraten.