Wer hat Angst vor dem bösen Internet?
Essay von Maja Seiffermann
Wir streben nach Emanzipation, einer eigenen, möglichst originellen, Meinung, nach #self-determination. Könnte man meinen. Sind wir aber nicht eigentlich bloß Marionetten, die heteronom allen Befehlen des Internets folgen? Keine Individuen, sondern Teil eines Schwarms, der zwar eine Richtung, aber kein Ziel hat? Unfähig, eine eigene Meinung zu haben? Zu unbegabt, zwischen kristallklaren Fakten und Unsinn zu differenzieren? Überhaupt zu wissen, was wir selbst unter Unsinn verstehen?
Man kennt es ja, es beginnt alles so scheinbar harmlos. Ein TikTok, das uns eine Freundin zuschickt. Wir schauen es uns an. So lustig ist es nicht, dennoch unterhaltsam. Wir zeigen es unserer Familie und schicken es weiter. Unsere Familie und Freunde schicken es erneut weiter. Ein solches Video kann sich ausbreiten, ohne dass wir über dessen Inhalt tatsächlich sprechen.
Der Begriff Schwarmintelligenz ist längst nicht nur ein biologischer Fachterminus, sondern beschreibt auch gesellschaftliche Vorgänge. Die Schwärme, die über uns hinwegfliegen, sind wir Menschen im Internet. Man fand heraus, dass es nur 5% einer Gruppe benötigt, um einen Richtungsimpuls zu setzen. Also, Notizzettel zücken und für die Eltern aufschreiben: Wenn 5% der Menschen, denen ihr auf Instagram folgt, aus dem Fenster springen und das teilen, werdet ihr das mit hundertprozentiger Sicherheit ebenfalls tun.
Was wir im Internet anrichten, ist eine neue Klassengesellschaft. Gebildete, reiche, netzaffine Menschen haben zu viel Zeit, ihre Meinung im Internet zu verbreiten. Arme, kranke und beschäftigte Personen kommen in der digitalen Welt nicht vor. Und wenn sie es tun, dann wahrscheinlich, weil sie um Mitleid betteln, im schlimmsten Falle um Spenden bitten oder etwas aus ihrem stinklangweiligen unattraktiven Leben teilen.
Die digitale Welt ist zudem sehr männlich dominiert. Na endlich, ein weiterer Lebensbereich, der von Männern mit einem zu hohen Geltungsdrang dominiert wird.
Wir leben darüber hinaus in einer Zeit, in der unsere Umwelt darauf abzielt, uns heteronomer zu machen denn je. Meinungsbeeinflussung durch das Internet ist dabei das, was wir wahrscheinlich gar nicht zusätzlich brauchen. Webseiten benutzen Algorithmen, um auf Basis unserer Daten Informationen vorauszuwählen. Als User erhält man demnach nur Informationen, die unserem Profil entsprechen. Wir selbst sind also tatsächlich kaum noch am Filtern der Informationen beteiligt. Wir müssen nur aus dem Ausgewählten auswählen.
Medienforscher Jan Schmidt sagt, das Internet habe einen neuen Typ der Öffentlichkeit geschaffen, der es uns ermöglicht einen sehr großen Kreis zu erreichen. Insbesondere in Zeiten einer Pandemie, in der das social distancing für die Krisenbekämpfung essenziell ist, können wir unsere Meinung schlecht den Passanten auf der Straße aus dem Fenster aus zurufen. Deshalb verlagern wir unseren Meinungsaustausch stattdessen auf soziale Netzwerke. Unsere Meinung ist darüber hinaus im Internet anonymer als in einem persönlichen Diskurs. Opfer von Gewalt und sozial unterdrückte Menschen bekommen eine Stimme, die sie nicht hätten, wenn sie den Mund vor den 6000 Menschen, die ihren Tweet lesen und teilen, öffnen müssten.
Der positive, für die Bildung nützliche Aspekt, ist jedoch auch anzumerken. Im Internet werden nicht nur gefährliche Meinungen verbreitet. Es gibt durchaus die Möglichkeit, Nachrichten und objektive Beiträge im Internet aufzurufen. Darunter fallen beispielsweise Zeitungsartikel oder Enzyklopädieeinträge. Erhalten Schüler*innen die Aufgabe, ein Schulreferat vorzubereiten, treiben sie sich ja auch nicht auf Donald Trumps Twitterprofil oder der QAnon-Website herum und stellen die dort erworbenen Informationen im Unterricht als Fakten dar. Traurig ist jedoch, dass der Föderalismus zulässt, dass Bund und Länder sich gegenseitig die Verantwortung für die Bildung zuschieben. Was sagt das denn über die Qualität der zur Verfügung gestellten Materialien aus, wenn laut einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach ¾ aller deutschen Lehrkräfte im Internet recherchieren, um ihre Stunden zu planen? Einerseits werden Schüler*innen in der Schule vor der negativen Beeinflussung des Internets gewarnt, während Lehrkräfte selbst ständig im Internet recherchieren. Andererseits klärt auch niemand auf, wie man das Internet für sich zu nutzen hat. Weiß es denn niemand besser als die junge Generation auf den Schulbänken?
Daher muss sich dringend etwas ändern. Die Angst vor dem Internet und der ständige Appell müssen durchbrochen werden. Die Art der Beeinflussung der Medien ist abhängig vom Umgang mit der Beeinflussung. Es gibt keine per se schlechte oder per se positive Beeinflussung. Genauso wie eine Meinung weder richtig noch falsch ist. Vor allem mit dem Wissen über den bloßen Fakt der Beeinflussung sollte jeder umzugehen wissen. Das ist Aufgabe der Elternhäuser, der Schulen und jedes Menschen selbst. Außerdem, seien wir mal ehrlich:
Lieber keine eigene Meinung und dem Schwarm folgen als gar keine Meinung. Und auch in Zeiten des social distancings können wir und sollten wir uns Meinungen im Internet durchlesen und verschiedene Quellen vergleichen. Social distance geht ja nicht mit distance zum gesunden Menschenverstand einher.