Wettbewerb regional „Ermstal Krimikurzgeschichte: Anna

Anna

von Clara Rappenecker

Das Häuschen in Dettingen würde jetzt sehr ruhig sein. So ohne ihn. Fast wäre es nicht soweit gekommen. Wie der Kommissar schon gesagt hatte, die Überdosis Schlaftabletten hätte ihn vermutlich nicht getötet, aber eben der Aufprall. Vom Hohen Urach fiel man nur einmal runter. Ein schöner Tod. Der Blick auf das Ermstal und den blauen Himmel. Sie sah sich um. Hier oben auf dem Rutschenfelsen war sie alleine. Die herbe Schönheit der Alb stand im Kontrast zu den unter ihr blühenden Kirschbäumen des Ermstals.
„Hast du mir die Hemden gebügelt?“, „Wann gibt es Essen?“ – wieder und wieder hatte er sie sein Leben lang gefragt, wieder und wieder sie ihn gehasst. Die Abende, an denen sie allein war und er ihr schnell von der Arbeit aus anrief, dass sie nicht auf ihn warten sollte. Wie sie trotzdem gewartet hatte.
„Wo warst du denn so lange an einem Freitagabend“, fragte sie.
„Wir hatte noch viel zu tun.“
Er ging an ihr vorbei, ohne ein Blick, ohne eine Berührung. Sie saß am Küchentisch, wie etliche Male und hatte die Karos der Gardinen gezählt. Der Geruch, wenn er an ihr vorbei ging, war sonderbarerweise immer gleich. Wie viele solche Freitagabende hatte sie erlebt?

Und sie? Was hatte sie für Pläne mit ihren 70 Jahren? Reisen! Das Haus genießen! Ihre Ruhe haben. Sie würde das Haus renovieren. Hans hatte für so etwas keine Geduld gehabt. Auch den Garten würde sie umstrukturieren. Sie hatte schon immer ein kleines Schwimmbecken haben wollen. Alle Nachbarn könnten kommen. Eine Gartenparty! Und dann würde sie ungestört an jedem Sonntag zum Wasserfall und von dort zur Ruine wandern und an Hans denken. Sie stellte sich das alles noch einmal sehr eindrücklich vor.
Der Kommissar hatte ihr sein Beileid ausgedrückt, und sie hatte ein wenig geweint. Er hatte einen ihrer Butterkekse gegessen, und sie hatte dabei vor sich hingestarrt. Der Kommissar hatte ihr erklärt, man müsse eine Obduktion machen. Und dann war er erneut da gewesen, hatte Saitenwürstchen mit ihr gegessen und erklärt, dass ihr Mann Schlafmittel genommen hatte.

Hans hatte Saure Nierle geliebt. Sie hatte dieses Essen gehasst. Dass Hans nicht glücklich war, war ihr viel zu spät in den Sinn gekommen. Sie war es jedenfalls auch lange nicht mehr gewesen. Aber was war das Schlimmste? Die Nierle?
Eher der Geruch – genauer: der Geruch einer anderen Frau.
Sie dachte zurück. Er und sie im Schwarzwald beim Wandern.
„Sollen wir nicht einmal länger wegfahren, Hans?“, hatte sie ihn beim Picknick im Wald gefragt, glücklich über seine Aufmerksamkeit, seine Anwesenheit.
„Das geht nicht. Die Arbeit!“, antwortete er ruppig und gleichzeitig lustlos, ehe er in sein Wurstbrot biss.
Sie waren Sonntagabend heimgefahren, und er war montags wieder zur Arbeit gegangen. Und wieder war da der Geruch.
Dass Hans unglücklich war, konnte sie auch rückblickend kaum verstehen. Schon gar nicht, seit sie es herausgefunden hatte.
„Du hast die Nierle versalzen!“ hatte er an einem Oktobertag geschrien, sie stand zitternd am Tisch und weinte.
Bekam er im Beruf viel Druck zu spüren? Sie fragte sich das, als er den Teller nach ihr warf, das Esszimmer verließ und auf dem Flur zur Haustür ihr noch nachbrüllte: „Selbst zum Kochen bist du zu blöd!“

Erst als sie herausbekam, was er tat, wurde ihr deutlich, was zwischen ihnen nicht stimmte. Als ihr klar wurde, dass er für Liebe bezahlte. Geld ausgab für andere Frauen. Als er anfing, sie zu schlagen. Das alles erduldete sie, dachte, es überstanden zu haben. Mehrere Male.
Aber dann: Sie konnte keine Kinder bekommen! Diese Wunde schmerzte sehr. Hans war ihr Halt, trotz allem.

Aber wann war sie das letzte Mal wirklich glücklich gewesen? Mit Sicherheit an dem Tag, an dem sie als Braut in das Haus in Dettingen geführt wurde, das er für sie beide gekauft hatte. Dann ihre Arbeit in Urach…
Es schien ihr, als lägen zwischen dem damaligen Glück und dem Unglück von heute nur Jahre voller dreckiger Wäsche, Saurer Nierle, Streit und nicht enden wollenden Tagen.
Der eine Tag, der alles änderte, war ein heißer Julimittag gewesen. Die Hitze stand auf den Straßen, und ein Gewitter kündigte sich an. Sie sortierte die Dreckwäsche, als der Brief aus der Hosentasche fiel. Ein Brief in einem geöffneten Briefumschlag. Und darin ein Foto. Das Foto, das ihre Welt zerstörte.

Seine Affäre mit Luise, der Bäckerstochter aus Metzingen, hatte sie erduldet. Doch das Foto, es hatte sie verfolgt. Anna hieß sie.
Anna – seine Anna.
Letzte Woche dann, da war sie ihr auf dem Markt begegnet. Ein Gesicht unter Hunderten, das aber herausstach, weil sie es kannte und hasste. Die junge Frau war direkt auf sie zugekommen, an ihr vorbeigeeilt und hatte sie angelächelt. Mit einem Hans-Lächeln. In diesem Moment fiel ihr der Einkaufskorb aus der Hand, landete auf dem Kopfsteinpflaster und Tomaten kullerten über den Boden.
„Oh, warten Sie, ich helfe Ihnen!“, sagte die Frau, aber als sie selbst in die Knie ging, mehr aus Reflex denn aus eigenem Willen erstarrte sie. Da war dieser ihr so vertraute Geruch. Sie ließ Tomaten und Korb liegen, fuhr herum und entfernte sich eiligen Schrittes. Die Frau rief ihr noch nach, aber sie entkam in eine Nebengasse.
Ein Gefühl der Beklemmung überkam sie, es schnürte ihr den Brustkorb zu. Er hatte es haben dürfen. Nicht nur den Betrug. Auch sie, diese junge Frau, dieses halbe Mädchen, mit dem Hans-Lächeln.

Sie hatte ihm das Schlafmittel in die Thermoskanne gefüllt, als sie am Montagnachmittag auf den Hohen Urach gewandert waren. Seit sie in Rente waren, unternahmen sie unter der Woche ihre Aktivitäten. Sie hatten ihre Ruhe, so wie sie es sich vorgestellt hatte. Niemand war zu sehen gewesen, während sie mit den Kaffeebechern am Abgrund standen.
Bereits zwei Minuten, nachdem er getrunken hatte, setzte die Wirkung ein. Sie gab ihm mit ihrem Wanderstock noch einen sanften Schubs, er verlor das Gleichgewicht, ehe er wie in Zeitlupe über die Brüstung stürzte.
Allein war sie zurückgegangen und hatte abgewartet. Bis endlich die Polizei anrief.
Der Kommissar tröstete sie, manchmal hinterließen Selbstmörder keinen Abschiedsbrief. Ob sie allein klarkomme in dem großen Haus? Ob ihr jemand beistehen könne? Eine Freundin? Dabei war sie ja im Jubeltaumel gewesen. Das Hausgespenst war weg.

Doch dann kam der dritte Tag.
Anna war seine Tochter, Luise die Mutter. Vieles hatte sie ihm verzeihen können, aber das, das nicht. Anna konnte sie ihm nicht verzeihen. Eine Tochter wäre alles gewesen, was sie hatte haben wollen in ihrem Leben.
Er, er hatte alles gehabt. Sie nur ein verpfuschtes Leben. Sie wollte endlich einmal Freude erleben, es gut haben, die letzten Jahre. Ohne ihn, den Verräter, den Störenfried.
Aber als sie den Pool in Auftrag geben wollte, wurde ihr lapidar davon abgeraten. Im Garten sei zu wenig Platz, ob sie nicht lieber einen Teich haben wolle.
Sie sah nach unten. Ohne ihn war das Haus so still. So leer. Man vermisste auch den Schmerz, wenn man sich an ihn gewöhnt hatte. Am Ende musste sie ihn dennoch geliebt haben, dachte sie bei sich, bevor sie in die Tiefe sprang.
Ein schöner Tod war das, ohne Zweifel. Mit dem Blick auf das Ermstal, die Alb und den blauen Himmel.

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