Willkommen in der Realtität!
Andre Jagodka: „Kommst du mit in den Alltag? – Lebenswelten von Musiker*innen“. Ventil Verlag Mainz, 2024, ISBN 978-3955751883, Broschur, ca. 220 Seiten, € 18,00
Rezension von Dieter Feist
Ist schon ziemlich lange her, da geriet mir ein Video der Band „Slipknot“ in die Hände. Nicht eben meine Musik, ich fand es aber trotzdem interessant. Besonders den Typ mit der Schweinemaske, der beim Spielen ständig den Oberkörper im rechten Winkel nach vorn knickte. Gut, auch der Bassist von Earth Wind and Fire hüpft pausenlos auf der Bühne herum; offenbar gibt es Musiker, die auch bei extremem körperlichen Einsatz noch geordnete Töne aus ihrem Instrument herausbringen (obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob das bei Slipknot die Absicht ist).
Meine Gedanken gingen in eine andere Richtung. Immer wird nur von den öffentlichen Personen, von den Stars und ihren Shows berichtet und vom Glamour drumherum, aber nie von der anderen Seite jenseits der Bühne. Was machen solche Leute wie dieser Paul Gray mit seiner Schweinemaske, wenn die Scheinwerfer abgedreht sind?
„Okay, Jungs, ich seh zu, dass ich nach Hause komme.“
„Kommst du nicht noch mit einen heben?“
„Sorry, ich brauch jetzt dringend ne Dusche. Außerdem hab ich Brenna versprochen, dass ich mich heute ums Abendessen kümmere.“
„Na dann, machs gut! Was gibt’s denn Feines?“
„Pichelsteiner mit Würstchen…“
„Boah, lecker!“
Warum sollte das eigentlich nicht so sein? Ist es so abwegig, dass die Stars, die wir nur von der Bühne und aus den Medien kennen, einen ganz normalen Alltag haben? Dieses „Sex-and-Drugs-and-Rock-and-Roll“-Getue ist doch nur die Mythologie, an die wir glauben sollen. Dabei legt Mick Jagger gern die Füße hoch beim Fernsehen (vermute ich – Menschen um die achtzig tun das), Keith Richards raucht nicht mehr und ernährt sich gesund (stimmt wirklich), Helene Fischer wurde vierzig und liebt ihre Tochter (hab ich gehört), Adele schüttelt abends die Schuhe ab und massiert ihre geschundenen Füße (kann ich mir lebhaft vorstellen), und Schockrocker Alice Cooper ist seit Jahrzehnten mit derselben Frau verheiratet und liebt es, mit seiner Enkelin auf dem Teppich zu spielen – ungeschminkt (hat er dem „Rolling Stone“ verraten). Bloß bei Paul Gray war es dann doch anders: er starb mit 38 Jahren an einem Medikamentenmix. Too much living. Rock als Lebens-Aufgabe. Live fast, die young.
Nun hat sich auch der Ventil Verlag der interessanten Thematik „Alltag von Bühnenmenschen“ gewidmet. Andre Jegodka kennt als Konzertveranstalter und Projektmanager eine Menge Leute und hat aus dem Thema ein beeindruckend pralles Interviewbuch gemacht. 32 Musiker:innen haben er und sein Team befragt und es sind gottseidank keine Weltstars, von denen man ohnehin ständig in den Medien lesen muss, sondern eher kontinentale „Bekanntheiten“, nahezu alle aus dem deutschsprachigen Raum. Entsprechend real, fast bodenständig werden die Themenbereiche behandelt, in die das Buch sorgsam aufgeteilt ist: Karriere, Alter, Geld, Arbeit und Umfeld. Bei jedem Gespräch kommen jeweils Frauen und Männer zu Wort, sodass ein rein weiblicher oder männlicher Blick vermieden wird. Dass die Berichte und Meinungen höchst persönlich sind, versteht sich von selbst, schließlich ist das hier keine soziologische Feldstudie. Unterm Strich ist das Geschlechterverhältnis 15 Männer zu 17 Frauen, aber nur, weil zum Thema „Die young, stay pretty“ die komplette Frauen-Band „Dives“ erschien. Alle 32 Musiker:innen plaudern aus ihren unterschiedlichen Nähkästchen und es ist wenig überraschend, dass es wenige Überraschungen gibt. Alles fast wie im wirklichen Leben: die Arbeitsbedingungen sind mal besser, mal schlechter, sie sind mal mehr, mal weniger mit dem Privatleben vereinbar, es gibt mal gute und mal schlechte Zeiten; andere Berufsgruppen kennen das auch.
Und keine:r kommt durch, ohne Kompromisse zu machen. Auch bei den künstlerischen Ansprüchen. Ist es ein Verrat an der Kunst, wenn sich eine Band den Vermarktungswünschen eines Platten-Labels anpasst? Manche der Älteren berichten, wie problematisch für sie solche Konflikte in jungen Jahren waren. Muss die Kunst vor der Realität gerettet werden? Es gibt Anlässe, Anstrengungen und Zugeständnisse. Aber: was für eine Kunst soll das denn sein, die keinen Bezug zur Realität hat? Da stellt sich die viel gestellte Frage gar nicht mehr, ob jemand „professionelle:r Künstler:in“ ist. Kunst ist Kunst, auch wenn sie nicht den Lebensunterhalt sichert.
Der Schauspieler Manfred Krug wurde nach seiner Übersiedlung von der DDR in die BRD gefragt, ob es für ihn nicht schrecklich sei, im Westen in Fernsehserien auftreten zu müssen. „Nö“, antwortete er, irgendwo müsse die Kohle ja herkommen, und – voller Selbstbewusstsein – ein guter Schauspieler werde im Fernsehen ja wohl nicht automatisch zum schlechten Schauspieler.
Ein Punk, der einen Punksong an Coca Cola verkaufen kann, müsste sich eigentlich in Fäustchen lachen: welch ein Lösegeld des Absurden! Habe ich das in diesem Buch gelesen? Ich bin mir nicht sicher, aber es würde passen.
Es geht um noch viel mehr in diesen vielen Gesprächen, man kann das alles gar nicht en Detail berichten, aber das ist auch gar nicht notwendig. Die treue Fangemeinde, die der Ventil Verlag sicherlich für seine interessante und vielfältige Musik-Linie hat, benötigt meine Empfehlung sowieso nicht, denjenigen, die das hier lesen, sei das Buch empfohlen, besonders Menschen mit künstlerischen Ambitionen, die sich die eine oder andere Frage, die in diesem Buch beantwortet wird, selber schon gestellt haben. Und vielleicht voller Zweifel sind. Sie werden feststellen, dass eigentlich keine:r der Musiker:innen, die hier ganz ehrlich Auskunft geben, einen sicheren, ehernen, unumstößlichen Lebensentwurf vorweisen kann. Nein, eigentlich sind alle immer wieder in der Situation, das Verhältnis von Kunst und Alltag zu reflektieren, zu hinterfragen und manchmal komplett in Frage zu stellen.
Ein bisschen zu kritteln hab ich trotzdem an diesem Buch: über zweihundert Seiten wortwörtlich in Schrift übertragener Gespräche sind eine harte Sache; wesentliche Inhalte und Tendenzen aus den Gesprächen zusammenzufassen und nur besonders aussagekräftige Sätze stehen zu lassen, hätte das Buch leichter lesbar gemacht.
Was der inhaltlichen Sache keinen Abbruch tut!
Und @Ventil Verlag: Ich bin schon gespannt auf das nächste Buch aus Eurer Musiksparte, das mir unser Chefredakteur zuschickt.