Wort Fetzen an gedichtet

Tom Schulz, Kanon vor dem Verschwinden, Berlin Verlag, Berlin 2009, 100 S. geb., ISBN 978-3-8270-0874-9

Nun kann man nicht sagen, Vers libre sei jedermanns Sache. Ist er nicht. Die Frage aber ist, welchen meinen wir denn da jetzt? Vers libre, nolens volens, den freien Rhythmus, die formlose Lyrik, den abgesetzten Wortschwall, bitte schön.

Na danke, sagt der Rezensent dann immer, danke auch.

Die freie Form verführt zur völlig falschen Annahme, der nicht der herkömmlichen Formlyrik folgende Text sei „formlos“. Ist er nicht, richtig, das hatten wir schon, weiter oben. Vielmehr folgt er einer sehr strengen Formvorschrift, einer nämlich, die der Autor entwickelt, umsetzt und mit dem Text quasi nebenbei vermitteln muss.

Da sage einer, Vers libre sei einfach. Ist er nicht. Hm, das haben wir jetzt zum dritten Mal. Wohin diese falsche Sicht der Dinge führt, kann übrigens im Internet in den Myriaden von Literaturforen besichtigen. Das Bestaunen währt nur kurz, das drüber Ärgern bedeutend länger. Der, oder, weil erheblich häufiger, vielmehr die MöchtegernpoetIn, glaubt zudem, formlose Lyrik habe keine Rhythmik. Auch das ist grottenfalsch.

Was hat das mit diesem Gedichtband zu tun? Viel, sehr viel, eigentlich alles. Denn nach dem Lesen des Bands, den der Rezensent hier vorstellt, erhebt sich die Frage: Hat der Autor eine Poetologie? Kommt sie in den Texten rüber? Ist sie durchgehend umgesetzt? Ragt sie aus dem Durchschnitt heraus? Bleibt etwas hängen, wenn man den Band weglegt, nachdem man ein oder zwei Texte gelesen hat?

Ja, es gibt Kriterien, um Lyrik zu bewerten. Auch das ist gelegentlich nötig, sich zu versichern. Kunst ist nichts Beliebiges, Lyrik, liedhafte, verdichtete Sprache also, schon gar nicht.

Zu den Fragen: Diese kann man mit „Ja“ beantworten, wenn man sich auf die Sprache und die Poetik des Autors einlässt. Der Rezensent weist darauf hin, dass das nicht ganz einfach ist. Wer allerdings Spaß an der Wortebenenspielerei, an der gleichzeitigen Ver- und Entzauberung von Sprachhülsen, Wortfetzen und den damit transportierten Weltsichten hat, der liegt bei diesem Band richtig. Dem aber müssen solche Verse, zitiert aus dem Gedicht Portas do Sol, S. 59f,

„… Tereassen über dem Tejo
wir nannten ihn einen Zubringer
ans Meer

mit dem Schutzheiligen aller
dekonstruktivistisch Reisenden bleib
das Ziel ein ausgeräumtes Stoffgeschäft
in das wir im Denken einbrachen

unter den Fenstern die Traurigkeit
trocknender Damenunterwäsche
immer müssen wir dem Heiligen

der Türklinken streicheln, dass er los
lässt …“

ein Grinsen ins Gedicht zaubern, vorausgesetzt, er war dort schon einmal und hat gesehen, was es da zu sehen gab, als die Gedankenpuzzleteile für dieses Werk vom Autor gesammelt wurden.

Netfinder:
http://www.berlinverlage.com/verlage/verlageList.asp?imprint=&cat=1
http://www.leselupe.de/lw/titel-wort-fetzen-salat-an-gedichtet-107821.htm
Letzteres ist das Gedicht des Rezensenten, das der Buchbesprechung vorausging.

Weltweitweb, im April 2015

Walther

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert