Zeichen der Zeit – Warum gegenwärtige Literatur in die Schulen muss!
Ein Plädoyer von Dana Shirley Schällert
Wenn wir im Deutschunterricht fast nur ältere Literatur lesen, dann machen wir das Literarische zu einer Sphäre, die sich selbst überholt zu haben scheint. Nichts wäre weniger wahr. Wir müssen mit Blick auf die Herausforderungen heutigen und zukünftigen Lebens die Gegenwart in die Schulen holen. Wir müssen Potenziale und Angebote nutzen, die dieser Gegenwart entspringen. Wir müssen sichtbar machen, was geschieht, dass geschieht, jeden Tag und in vielfältiger Art und Weise – gespielt, gebrochen, besprochen und gestaltet durch Literatur. Es geht darum, wieder gemeinsam zu entdecken, dass Literatur ein elementarer Ausdruck menschlichen Lebens ist. Eigentlich ein Meta-Text, der gerade in einer Zeit der Um-/Brüche eine simultane Reflexions-, Diskurs- und Ausdrucksfläche für jeden bietet. Und vielleicht einen hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft ermöglicht.
Literatur – eine fragwürdige Angelegenheit …
Literatur verschwindet zunehmend aus den Curricula deutscher Schulen. Sie wird verdrängt von Pragmatismen, die, vor dem Hintergrund einer sich stärker ausdifferenzierenden Berufslandschaft, und ausgehend von dem Versuch, alle möglicherweise im Leben benötigten Fähigkeiten als erwerbbare Kompetenzen zu konzeptualisieren, welche es dann sukzessive in der Schule zu erwerben gilt, den Schulalltag dominieren. Lernende werden zur Verinnerlichung und Anwendung jener Kompetenzen erzogen, die sie später möglichst vielfältig einsetzbar machen sollen. Der Deutschunterricht vermittelt hierfür Grundlagen im Bereich von Lese-, Rechtschreib- und Schreibkompetenzen, er soll helfen, Informationsfülle zu bewältigen, Medienerziehung betreiben, Sachtexte zu verstehen und zu analysieren – vieles Weiteres mehr. Zwischendurch werden vereinzelt Klassiker gelesen, Lyrik, Kurzprosa, meist deutlich älter als zwanzig Jahre. Der Stellenwert von Literatur in Schule ist fragwürdig geworden, das merkt man auch dem Unterricht vieler, gerade jüngerer, Lehrer*innen an, so engagiert diese auch arbeiten mögen. Es entsteht der Eindruck, als sei Literatur eigentlich etwas Aus-der-Zeit-Gefallenes. Sie wird im Unterricht, vor allem der Sek I, eher zu einem Nischenphänomen.
Literatur ist tot – oder atmet da doch noch was?
Warum ist das so? Ist Literatur tatsächlich eigentlich ein „nettes Extra“, auf das sich auch verzichten lässt? Ein verstaubtes Relikt aus Zeiten der Vorherrschaft eines sich als elitär verstehenden Bildungsbürgertums? Ein Dinosaurier? Ist die literarische Szene im Grunde längst tot? Alles andere als das! Sie ist da! Sie ist sicht- und lesbar! Aber die Kluft zwischen literarischer Gegenwartsproduktion und Schule scheint fast unüberwindbar, als nähme das eine das andere kaum wahr. Vereinzelt schaffen es Texte deutschsprachiger Gegenwartsliteratur quasi per Verordnung über das Zentralabitur in die Schulen, in Niedersachsen waren das zuletzt Arno Geigers „Unter der Drachenwand“ und Juli Zehs „Corpus Delicti“, auch nicht mehr ganz neu, aber rund um Corona wieder interessanter geworden. Doch das sind Ausnahmen. Und es sind beides Romane, die von etablierten Publikumsverlagen vertreten und vielfach über den Literaturbetrieb legitimiert worden sind. Aber immerhin: Die Schüler*innen haben gelernt: Es gibt noch Literatur! Und da sind Menschen, die schreiben sowas! Heute noch! In einer Sprache, die unserer ähnelt! Und über die heutige Zeit! Warum bleiben das singuläre Erfahrungen? So gut wie gar nicht tauchen im Unterricht Werke auf, die tendenziell unbekannter, noch nicht preisgekrönt, nicht bereits in den Bestsellerlisten aufgetaucht sind, Lyrik, Kurzprosa, die in ihrer Kürze und Dichte doch so viel bieten könnten. Und sollten die Mechanismen eines „Literaturmarktes“ bzw. auch eines in seinen Strukturen zumindest hinterfragbaren Literaturbetriebs tatsächlich sinnvolles Auswahlkriterien sein, was im Unterricht zu behandelnde Literatur angeht? Literatur, die in vielfältiger Weise abseits des bereits Etablierten entsteht, publiziert, vorgelesen, rezipiert wird, fehlt – warum auch immer.
Kann Literatur abseits des Literaturbetriebs „gut“ sein?
Dass dies der Fall sei, weil sie eben bestimmten Gütekriterien nicht standhalte, ist eine mindestens voreilige Annahme, die sicher nicht auf das Gros der Texte zutrifft. Ganz im Gegenteil! Gerade bei der Auswahl noch nicht ausführlich extern legitimierter literarischer Texte ist der Diskurs über literarische Kriterien eminent wichtig (hierzu gibt es fachdidaktische Überlegungen z.B. von Thomas Zabka und Jan Standke, der sogar eine didaktische Zeitschrift mit dem Titel „Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur in der Schule“ herausgibt), weil eben der Autorenname oder der Verlag nicht Renommee genug ist. Das eröffnet Chancen der Metareflexion unter Lehrenden mit Autor*innen, unter Lehrenden und Schüler*innen, optimalerweise auch zwischen Schüler*innen und Autor*innen, sehr gern alles erweitert um weitere Teilhabende an der literarischen Szene wie Buchblogger*innen, Literaturkritiker*innen, Verleger*innen. Diese Liste ließe sich weit fortsetzen. Gerade das Erörtern der Frage, was zeitgemäß, was gut, was hochwertig, was interessant und innovativ sei, ist es, dem sich die Verantwortlichen bei Verlagen und Literaturmagazinen sowie öffentlichen Wettbewerben, wo die Texte in der Regel anonym eingereicht zu werden, um eine Konzentration auf die Textqualität zu ermöglichen, in jedem Auswahlprozess erneut stellen. Der Austausch über Qualitätsmaßstäbe im Umgang mit Literatur ist hier in vollem Gange.
Die frei zugänglichen Verstecke gegenwärtiger Literaturproduktion
So vielfältig wie die literarische Szene es heutzutage ist, so vielfältig sind auch Produktionsorte und Produktionsbedingungen gegenwärtiger Literatur, die so viel mehr Potenzial bieten als die Orientierung an den Vorschlägen in Kerncurricula, auch jener an den Gewinnern der großen nationalen und internationalen Literaturpreise oder eben der genannten Beststellerlisten: Welche*r Lehrende des Fachs Deutsch kennt nur drei aktuell existierende Literaturzeitschriften? Wer kennt Internetpräsenzen, auf denen aktuelle Literatur präsentiert, gesichtet, diskutiert wird? Wer hat eine Übersicht über die Menge an Klein- und Kleinstverlage, die liebevoll Literatur auswählen und verlegen, oft gegen erhebliche ökonomische Widerstände? (Ein Verleger schrieb mir vor etwa einem Jahr, es sei inzwischen wirtschaftlicher, nicht zu verlegen, als zu verlegen.) Und wer kennt die Vielzahl an haupt- oder nebenberuflichen Autoren, die diese Szene jeden Tag bereichern, die einen Diskurs ermöglichen (auch hier entgegen einer Vielzahl an Widerständen)? Wer anhand dieser Fragen neugierig geworden wäre, würde auf seiner/ihrer Suche auf zahlreiche Namen und Projekte stoßen. Hinter ihnen stehen Menschen, die mit uns, unter uns leben, denen Literatur einen wesentlichen Teil ihres Lebens bedeutet, die sich literarisch damit beschäftigen, wie es ist, jetzt, hier, unter den gegebenen Umständen, konfrontiert mit gegenwärtigen Krisen, auf der Suche nach neuen Hoffnungen und Orientierungen, zu leben und zu schreiben. Ihre Texte laden ein zum Diskurs, und sicher würden sie selbst es auch tun, wenn man sie fragte.
Zwei voneinander geschiedene Sphären
Aber zu wenige fragen. Sicher, es gibt die ein oder andere Autor*innenlesung an Schulen, aber, wenn man den gegenwärtigen Zustand aus der Distanz betrachtet, ergeben sich zwei ziemlich klar voneinander geschiedene Sphären: ein Deutschunterricht, der zu einem ganz beträchtlichen Teil inzwischen kein Literaturunterricht mehr ist, und, wo er noch Literaturunterricht ist, sich fast ausschließlich auf ältere Texte bezieht, die meist nur in vordidaktisierter Form vermittelt werden (über das Deutschbuch und seine Aufgaben, über für Lehrer*innen entwickelte Unterrichtshandreichungen, oft in aus literaturwissenschaftlicher und selbst -didaktischer Perspektive zweifelhafter Qualität), zumeist noch immer viel zu stark im Bereich der Schreibkompetenz Aufsatztypen mit Schüler*innen trainiert, die mit dem echten Leben wenig zu tun haben, und die Beschäftigung mit Literatur auf Lesekompetenztraining und das Auswendiglernen von Gattungsmerkmalen reduziert. Letzteres, weil viel zu vielen Lehrenden, die, das möchte ich betonen, dennoch sehr fleißige und engagierte Lehrkräfte sein können, selbst der Bezug zur Sphäre der Literatur, die Sinnhaftigkeit von Literatur, nicht mehr direkt zugänglich ist. Sie haben aus vielfältigen Gründen den Anschluss an diese zweite Sphäre verloren (oder schon während der eigenen Schulzeit nicht gefunden – es ist markant, wie viele Deutschlehrer*innen sich selbst inzwischen als Nicht-Leser klassifizieren). Diese zweite Sphäre ist die literarische Sphäre, in der auf eine vollkommen andersartige Weise über Texte gedacht, in der, in stetiger Auseinandersetzung mit den Themen Ich und Welt, gegenwärtig produziert wird. Sie gestaltet in einem fortlaufenden Prozess einen Meta-Text des Weltgeschehens, einen Bereich, in dem in einem unablässigen Prozess des Weiterschreibens und Kommentierens als großer, vielstimmiger Text Zeitgeschehen eingeordnet, reflektiert, subjektiv, mehrdeutig und -perspektivisch ausgedrückt wird. Es ergibt sich ein Kaleidoskop, an dessen Facetten sich jeder einzelne als Rezipient und/oder Produzent einbringen und abarbeiten kann, auch und gerade im Diskurs mit anderen.
Gegenwartsliteratur als Meta-Text
Ganz ehrlich: Was könnte zeitgemäßer sein als ein derartiger Meta-Text vielstimmigen Reflektierens in einer Zeit, in der sich Resignation, Orientierungslosigkeit, empfundener Handlungsdruck und der Wunsch nach Zielorientierung und Aufbruch überlagern! Diese Sphäre ist lebendig, inhaltlich und personell, sie ist alles andere als exklusiv, denn prinzipiell ermöglicht sie, gerade auch durch die digitale Zugänglichkeit vieler Angebote, jedem eine Teilhabe, der über einen Schreibanlass, Schreibmotivation und ein ausgeprägtes Bewusstsein für literarische Qualität verfügt, welches stets das Ergebnis von Lesen, Schreiben und Reflektieren ist. Einige Ausschreibungen von Literaturmagazinen oder Wettbewerben richten sich sogar explizit an adoleszente Autor*innen. Natürlich aber entstehen auch alle gegenwärtigen Texte immer referierend und gründend auf der Literaturgeschichte! Sie stellt ihre Voraussetzung dar, alle gegenwärtige Literatur ist, so gesehen, intertextuell, sodass auch die zeitlich fernere Literatur noch immer in den heutigen Meta-Text eingeschlossen, ja, -gewoben ist. Die Relevanz historisch weiter entfernter Texte (auch für den Unterricht) soll hier in der Folge, und das sei ganz ausdrücklich betont, also in keinster Weise bestritten werden! Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen! Um gegenwärtige Literatur wirklich angemessen verstehen zu können, ist der Nachvollzug ihres Gewordenseins unverzichtbar, ebenso wie wir unsere heutige Zeit auch immer nur mit dem Blick in die Vergangenheit versuchen können zu verstehen und zu konstruieren, ein ebenfalls unabschließbarer Selbst-Deutungsprozess. Der Punkt ist einfach der, dass es in keinem Fall einleuchtend sein kann, nicht von der Gegenwart auszugehen und auch immer wieder auf die Gegenwart zurückzukommen, wenn es um die Beschäftigung mit literarischen Gegenständen geht. Ich kann nur wiederholen: Literatur findet statt. Jetzt. Hier und woanders. Überall. Doch im Unterricht deutlich zu wenig.
Vielheit als Hinderungsgrund
Möglicherweise liegt das, neben der Schwierigkeit, dass vielen Lehrenden selbst inzwischen der unmittelbare Zugang fehlt, auch daran, dass der Wunsch nach durch andere Instanzen vollzogenen Ordnungen und Vorsortierungen sehr hoch ist, um abgesichert zu sein, dass man etwas allgemein (und überzeitlich) Gültiges zu vermitteln hat. Kann dieser Maßstab noch zeitgemäß sein? Müssen wir immer abwarten, ob ein Text geblieben ist, um uns sicher zu sein, dass er etwas zu sagen hat (und damit auf Texte verzichten, die stark auf sich konkret Ereignendes reagieren)? Und können wir dieses, was zu sagen ist und wie es gesagt wird, nicht auch stärker entdeckend mit den Schüler*innen (und im besten Falle unter Einbezug all der anderen Personengruppen) entdecken? Hierzu hat sich der Literaturdidaktiker Clemens Kammler bereits vor vielen Jahren ausführlich geäußert und Mut zum Experiment und gemeinsamen Erproben gemacht. Auch die schlichtweg unübersichtliche und hohe Zahl gegenwärtiger Veröffentlichungen, unter denen man auswählen muss, verunsichert. Wartet man aber ab, bis andere diesen Selektionsprozess vollzogen haben, dann ist der Vorteil unmittelbarer Gegenwärtigkeit meist bereits verschenkt, ohne dass man eigentlich weiß, inwiefern dieser Auswahlprozess wirklich rein sachorientiert gewesen ist. Dasselbe gilt für die Vielstimmigkeit. Hier finden ebenfalls Reduktionsprozesse statt, die kritisch beobachtet werden sollten. Man mache es sich immer wieder bewusst: So wie das Schreiben, steht auch der Diskurs über Literatur einem jedem offen, der daran ein Interesse hat. Wer anfängt, sich dem Diskurs zu stellen, der wird früher oder später auch sein Auge für Kriterien und Werturteile schärfen.
Rettung der Literatur durch Rettung des Literaturunterrichts
Nun schrieb ich vorhin, dass möglicherweise Angehörige der literarischen Szene gern bereit wären, die stärkere Präsenz von Gegenwartsliteratur in Schulen zu stützen – durch analoge oder digitale Lesungen (Ja! Was bietet die Digitalisierung hier für Chancen!), durch Diskussionen, durch Schreibwerkstätten. Ich möchte das Möglicherweise zurücknehmen und schreiben: mit Sicherheit. In den letzten Monaten habe ich viele Gespräche geführt. Mit verschiedensten Personen, die im Bereich Literatur produzierend, auswählend, kommentierend tätig sind. Die Bedeutsamkeit, Gegenwartsliteratur stärker in den Unterricht zu holen, stieß überall auf großen Widerhall und auch konkrete Angebote. Warum? Im Grunde liegt es auf der Hand. Wir sagen es so gern, leiten aber (auch bildungspolitisch) zu wenig Konsequenzen daraus ab: Die Kinder sind unsere Zukunft. Was ihnen in den Schulen begegnet (oder nicht begegnet) und wie es ihnen begegnet, das prägt sie immens. Viele Kinder haben heutzutage im privaten Umfeld nicht mehr die Möglichkeit (viele hatten das auch in der Vergangenheit nicht), mit Literatur in Kontakt zu kommen, ihre Sinnpotenziale zu erfahren, als Rezipienten und Produzenten. Der schulische Unterricht ist ihre einzige Chance. Und was, wenn der Unterricht diese Chance nicht nutzt, Deutschunterricht verkürzend nur aus der Perspektive instrumenteller Vernunft als Ausbildungsinstrument für basale Lese- und Schreibkompetenzen verstanden wird? Dann gibt es Literatur in den Köpfen dieser Schüler*innen nicht mehr, dann verschwindet sie, die in den Curricula der Länder ohnehin bereits marginalisiert wurde, noch stärker aus dem allgemeinen Bewusstsein, es wachsen auch immer weniger potenzielle Lehrer*innen heran, die hierin einen Sinn sähen. Natürlich: Literatur wird es immer geben, das ist bei allen Grundbedürfnissen so, aber sie führt schon jetzt ein Nischenleben. Verzichtbar ist sie dennoch keinesfalls. Literatur ist keine Ausnahme, obwohl sie zu einer gemacht wird. Ihre Marginalisierung ist nur ein Zeichen dafür, dass in einer Leistungsgesellschaft individuelles Glück, kritisches Reflexionsvermögen und Freude am Tätigkeitsein jenseits von Erwerbsarbeit auf der einen und Entspannung auf der anderen Seite und in Auseinandersetzung mit vielem, was vordringliche Wichtigkeit und unmittelbaren Nutzen suggeriert, so ortlos geworden sind. So ortlos eben wie die Literatur, die dies und noch viel mehr fordert, fördert, schenkt. Alle Kulturschaffenden haben, weil sie das, was sie tun, als elementar wichtig und menschlich empfinden, weil es ihnen am Herzen liegt, das Bedürfnis, diese Sphäre, die nicht in einer reinen Funktionalisierung aufgeht, nicht geopfert, verdrängt zu sehen. Sie wollen, dass die Literatur bleibt. Und damit das Nachdenken und Gestalten von Welt. In den Köpfen, zum Anfassen, im zwischenmenschlichen Miteinander. Und darum haben so viele direkt ihre Unterstützung zugesichert, als ich mit ihnen sprach. Sie wollen eine Zukunft mit Literatur!
Literatur, Bildungspotenziale, Zukunft
Aber wäre das auch im Sinne zukünftiger Generationen? Es wäre, aus meiner Perspektive, nichts weniger als notwendig. Wenn wir auf gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen schauen, dann brauchen wir Menschen, die sich in der Vielzahl der existierenden Lebensmöglichkeiten, der vielen „Freiheiten“, die die Menschheit sich geschaffen hat, positionieren, selbstbewusst, die eigene Lebenswege mit Bedacht und Zufriedenheit gehen, die sich im Einklang mit sich selbst, aber auch in reflektierender Distanz zu allen möglichen gegenwärtigen Entwicklungen verhalten, seien sie ökologischer, politischer oder gesellschaftlicher Art. Der Hirnforscher Gerald Hüther schreibt das so treffend in seinem Buch „Education for future“: Die jungen Menschen bräuchten keine „Ausbildung“, die das gegenwärtige Schulsystem bietet, welches sie „kompetent“ macht in der Bewältigung von Herausforderungen, sie brauchen hingegen eine ganzheitlicher gedachte „Bildung“. Literatur ist ein Lerngegenstand, der ein solches Gegenüber, das ganzheitlich herausfordert und bildet, darstellt: Sie konfrontiert mit Lebensmodellen, mit vergangenen und zukünftigen Lebensweisen, mit Gefühlszuständen, sie ermöglicht Selbstdistanzierung und Selbstfindung, sie ermöglicht Differenzerfahrungen, Perspektivübernahmen etc. Ich muss hier nicht die gesamten von Fachdidaktikern, allen voran Kaspar Spinner, schon vor Jahren erarbeiteten Potenziale literarischen Lernens herausstellen, es reicht der Verweis darauf. Eine zukunftsangemessene Bildung, die diese nicht zur Ausbildung funktionalisiert, sondern das reflektierende Ich in Auseinandersetzung mit Welt bringt, man könnte mit Hartmut Rosa und der Resonanzpädagogik auch von Anverwandlung sprechen, muss den lernenden Menschen starke Gegenüber bieten, die Sinnangebote unterbreiten, die sie abwägen dürfen, die ihre Kreativität in intellektuellen und gestalterischen Prozessen nicht einschränken, sondern fordern und anregen – denn gerade das braucht eben eine zukünftige Welt (auch hierzu findet man einiges bei Hüther): fantasievolle Menschen, die private und gesellschaftliche Herausforderungen annehmen und (in einem nicht auf Erwerbsarbeit verkürzten Sinn) bearbeiten. Literatur kann ihnen helfen, diese eigenen Potenziale zu entfalten, ohne dass ihr Berufswunsch zwangsläufig sein muss, Autor*in zu werden. Sie können Auctor*innen neuer Lebenswege für alle werden.
Kritik der Kritik am Idealismus
Aber sind die Lehrpläne nicht zu voll? Die Schüler*innen auch aufgrund der zahlreichen Migrationshintergründe nicht durch so schwierige Lernvoraussetzungen geprägt, dass es illusorisch ist, so eine ferne und elitäre Sphäre wie die der Literatur überhaupt anzupeilen? Ist sie nicht generell ein Phänomen eines Bildungsbürgertums, das hochzuhalten etwas Verdächtiges, Antiquiertes, ja, Konservatives hat? Und was ist überhaupt mit dem grassierenden Lehrermangel? Sprechen wir hier nicht über ein Luxusproblem? Geht es nicht derzeit, aufgrund all dieser Argumente darum, sich auf die ganz elementaren Kulturfähigkeiten und die Aufrechterhaltung irgendeiner Form von Unterricht zu beschränken? Gängige Einwände sind das, eher minder als mehr berechtigt. Die Lehrpläne sind nur so voll, wie man sie macht (sie kommen aus menschlicher Hand und sind veränderbar). Aber selbst die gültigen Pläne bieten Spielräume, die problemlos nutzbar sind, um Gegenwartsliteratur ins Klassenzimmer hineinzuholen, gerade weil die Kompetenzorientierung nur noch selten ganz konkrete Werke vorgibt. Dem Einwand, dass Literatur elitär und eine ferne Sphäre sei, habe ich hoffentlich schon argumentativ entgegengewirkt. Sie ist nicht fern, sie ist da, und sie ist in vielerlei Hinsicht inklusiv. Im Gegenteil würden wir viele Schüler*innen zunehmend in ihrer Möglichkeit zur kulturellen Teilhabe ausschließen, wenn sie nicht mehr in Kontakt mit diesen Angeboten zur Sinnbildung kommen würden (es gibt sogar wunderbare mehrsprachige Literatur, die behandelt werden kann). Exkludierend kann nur Unterricht sein, der hier Türen verschließt. Ich persönlich denke, dass literarisches Lernen mindestens gleichberechtigt neben dem Lese- und Schreiberwerb angezielt werden sollte, selbst wenn sowohl Lese- als auch Schreibfähigkeiten für das selbstständige Lesen und Schreiben Voraussetzung sind. Für das Hören von Literatur und die Anschlusskommunikation darüber, auch für das Imaginieren eigener Geschichten ist das aber nicht der Fall, weswegen viele Kinder über ihre Elternhäuser und Kindertageseinrichtungen bereits literarisch sozialisiert werden, bevor sie überhaupt das erste Wort gelesen oder geschrieben haben. Denn das Bedürfnis danach, an Modellen über die Welt ins Gespräch zu kommen, das ist, wenn wir ehrlich sind, viel elementarer als das, die Technik des Lesens oder Schreiben zu erlernen. Denn hier geht es eben nicht nur um eine Technik, um eine Kompetenz, es geht um mehr: Es geht um uns in der Welt, in der wir leben. Darum, nach dem Ende der großen Erzählungen (Lyotard), unsere eigenen zu finden. Mit Bildungsbürgertum hat das, um es noch einmal klar zu sagen, überhaupt nichts zu tun. Literarische Texte, und seien es mündliche, existieren in allen Kulturen und kulturellen Schichten rund um den Globus, der Einzelne möchte eine Sprache finden, in der sich artikulieren kann – und der Raum muss ihm oder ihr zugestanden werden. Im Literaturunterricht (hier wird schon deutlich, dass das tendenziell etwas Ausgedehnteres bedeutet als „Deutschunterricht“ – es eröffnen sich Potenziale für grundsätzliche Reformgedanken.)
Packt den Mangel an der Angel!
Und ja, der Lehrermangel, der ist tatsächlich ein großes Problem, das davon zeugt, dass Bildung in Deutschland deutlich mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit (auch durch Aufbietung finanzieller Mittel) rücken sollte. Und er zeugt auch davon, dass viele junge Erwachsene wenig Reiz in der Vorstellung sehen, zurichtende „Ausbildung“ von Kindern zu betreiben, in der es darum geht, Noten zu verteilen, was man schon in der eigenen Schulzeit ungerecht fand, Hierarchien zu stabilisieren, die man schon in der eigenen Schulzeit unzeitgemäß fand, eine Weltferne zu unterstützen, die man schon in der eigenen Schulzeit weltfern fand. All das. Die Reproduktion von etwas, das die meisten nie mochten, als sie es erlebten. Wenn die Lerngelegenheiten sinnstiftend sind, dann ist auch das Unterrichten sinnstiftend. Dann wollen viel mehr Menschen mit Ambitionen, die Gestalter, die Kreativen, die Idealisten, ihre Vorstellungen in diesem Beruf verwirklichen und nicht bevorzugt in die freie Wirtschaft gehen, wo sie sich einfach freier entfalten können und die Burnout-Rate niedriger ist.
Unabschließend
Literatur hat sich nicht selbst überholt. Und Literaturunterricht wird wichtiger denn je, wenn wir einen Blick werfen auf die laufenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse. Ich möchte dieses Plädoyer gern mit einem Aufruf schließen. Dem Aufruf nämlich, daran teilzuhaben. Teilzuhaben daran, gegenwärtige Literatur, Meta-Text, Gegenwart selbst in den Unterricht zu holen. Er richtet sich an all jene, die irgendwie in diesem Text vorkamen: Autor*innen, Schüler*innen, Lehrer*innen, sämtliche Beteiligte der literarischen Szene, Kultusminister*innen, diejenigen, die in Kommissionen zur Entwicklung von Curricula und Zentralabiturthemen arbeiten. Er spricht auch die an, die in öffentlichen Medien selbst darüber schreiben mögen, an Eltern, an alle, die dazu etwas sagen, oder dafür etwas tun möchten. Macht euch selbst auf den Weg! Ich freue mich auch über alle Zuschriften, jedes Feedback, über Kommentare, Anregungen und Möglichkeiten zur Vernetzung unter der Redaktionsadresse: redaktion.blogmag(at)zugetextet.com.