Zürcher Guthaben
Geschichte von Michael Johannes B. Lange
Aus Spaß war Ernst geworden. Dann musst du eben Berg steigen, haha, sieh mal zu, dass du über alle Berge kommst. Frank Kahr musste nur diese Grenze überwinden. Nach Schaffhausen war er ohne besondere Vorkommnisse gekommen. Der Bus hatte ihn gerade in die Nachmittagsdämmerung ausgespuckt. Nun sah er auf das Tal mit den gerodeten Eichen- und Lindenstämmen neben den Waldföhrenstreifen. Hier begann der offizielle Naturpark.
Kahr verglich seine Beobachtungen mit einem Blick auf Kompass und Karte. Er dachte an seine Ausrüstung: Karte, Rucksack mit Brotzeit und Trinkflasche, Schlafsack, Waschzeug und Kleidung zum Wechseln. Das Bargeld hatte er in mehreren Verstecken am Körper und in der Kleidung, die aus einer dunkelbraunen Fleecejacke und einer Hose mit Seitentaschen bestand. Die EC-Karte hatte er auch dabei, aber in der Schweiz nicht eingesetzt. Die Wanderstiefel waren zuhause eingelaufen worden.
***
Ehrlich währt am längsten, aber es gab schon lange kein Zurück mehr. Die Grenzen wurden kontrolliert. Die Regierungspresse berichtete ausführlich (man konnte auch sagen: genüsslich) von verdächtigen Autos, die an der Grenze heraus gewunken wurden. So verdächtig wie in Kahrs Jugend bestimmte Autos mit bestimmten Aufklebern an der holländischen Grenze gewesen waren, so waren es nun Fahrzeuge mit dem Geruch von mehr als bloßem Wohlstand an der Schweizer Grenze.
„Möchten Sie wirklich nicht…“, hatte der Bankangestellte im Zürcher Kreditinstitut gefragt. Er sah den Mann wieder vor sich: eine hohe Gestalt mit Geheimratsecken. Er erinnerte sich an ihn. Und – würde er sich auch an einen Frank Kahr aus Deutschland erinnern? Es wurde von einer weiteren Daten-CD gemunkelt, die sich eine deutsche Staatsanwaltschaft leistete. Willst du wissen, was in Deutschland wirklich los ist, lies eine Schweizer Zeitung. Lies, aber bloß nicht im Abo. Geh zum Bahnhof, bezahle in bar.
“Möchten Sie denn wirklich nicht…?”
Kahr hatte bloß den Kopf geschüttelt und vor all den Kameras, den versteckten und unversteckten, sogar ein Lächeln zaubern können: Großmünster, Fraumünster, Peterskirche und die Augustinerkirche haben in all den Jahren deiner regelmäßigen Einzahlungen ruhig auf dich herabgesehen. Mein Gott, es ist doch mein Geld, es soll für Frau und Tochter sein, ich fahre keine S-Klasse, und ich will bestimmt nicht auf dem Zürichberg in einer 2,5-Zimmer-Wohnung zum Preis für eine Million Euro in einem dieser Zementriegel residieren, eine 13-Meter-Yacht aus glasfaserverstärktem Kunststoff mit Mahagoni-Täfelung am Limmatsteg besitzen und einem Golfclub mit einem Jahresbeitrag von 18.000 Euro angehören, ich will bloß…
…raus aus der Schweiz, nur noch vorbei am Zoll, wieder zurück nach Deutschland mit all seinen über hundert Regionen, die auch den Beinamen „Schweiz“ tragen. Nur weg von hier und zurück nach… Irgendwo hinter einem dieser Berge musste Kloten liegen, aber nein, auch kein Flugzeug. Erst recht kein Flugzeug, schon gar nicht direkt aus Zürich. Vergiss es, genauso wie die Züge, vergiss Genf, auch dort sind Kontrollen.
“Möchten Sie wirklich nicht…?
„Es geht schon“, hatte Frank Kahr noch hinzugefügt, während ihm schwindelig bei all dem vielen Geld in den kleinen Scheinen wurde. Wie hast du das nur gemacht?, wurde er einmal auf einer Party in dem neuen Haus gefragt. Wie ist der denn jetzt nur darauf gekommen?, fragte sich Kahr widerwillig, während er den leicht besoffenen vage Bekannten zurückhaltend anlächelte und etwas von „Glück“ erzählte. Wenn es Magie ist, so bete, dass sie auf meiner Seite ist, nur solange, bis ich über die Grenze bin, dann werde ich jede Grenze respektieren, in alle Ewigkeit…
Wir bedanken uns für das von Ihnen entgegengebrachte Vertrauen. Wir verlieren Sie nur ungern als Kunden…
Wahrscheinlich werde ich da nicht der Einzige sein, hatte Kahr gedacht. Eine Freitreppe hatte ihn aus dem alten Backsteinpalast auf den unauffälligen Seitenweg zur Langstraße geführt. Es wurde dunkel, als die ersten Regentropfen fielen. Es war ein Mittag im Sommer, doch dies erschien ihm wie ein Novemberabend. Die Berge schien auf Zürich einstürzen zu wollen, während der See nichts weiter war als ein großes schwarzes Loch. Allein die Temperaturen waren sommerlich an diesem Tag, der nie als Datum auftauchen durfte.
***
Er hatte regelmäßig trainiert, heimlich vor aller Augen. Bei jeder Gelegenheit hatte er die Treppenstufen genommen. Natürlich hatte er jedes Mal gekeucht, aber jedes Mal weniger. Er aß weniger, auch im Dezemberfieber, während Pia vor dem Fernseher mit den ausgestrahlten Weihnachtsliedern lag.
Von einer Familie mit Kind kann doch keine Gefahr ausgehen, oder?, fragte sich Kahr. Oder birgt ein Kindermund Gefahr? Ich kann ihnen jetzt nicht mehr aus dem Weg gehen. Das würde mich nur verdächtig machen.
„Hallo“, sagte die Frau lächelnd.
Kahr erwiderte den Gruß und das Lächeln, während sich sein Magen verkrampfte.
„Sie wissen wohl nicht zufällig, wo der Hagenturm ist, oder?“
Kahr grunzte unverbindlich. Der Mann erschien Kahr klein und schmächtig. Er hatte ein eingefallenes Gesicht und ein Ziegenbärtchen. Seine tief liegenden Augen blickten in müder Freundlichkeit. Kahr musste an einen dieser Vietcong-Pygmäen denken, der nun aber einen Bürojob übernommen hatte. Wie ich ihm wohl erscheine?, fragte sich Kahr, bevor er einen Blick auf die Frau warf, die ihm ebenso klein wie der Mann erschien. Sie hatte langes, blondiertes Haar mit Locken. Sie lachte, ihre dunklen Augen lachten nicht, ja, sie hatten diese Vietcong-Wachsamkeit.
Dann war da das kleine Mädchen. Sie merkt gar nicht, dass ich da bin. Wahrscheinlich bemerkt sie von all dem hier überhaupt nichts.
„Tja, ich werd` dann mal wieder“, sagte Kahr und wandte sich ab, bevor ihn diese Familie noch nach einer Richtung fragen konnte.
***
Die drei Männer unterhielten sich laut genug, dass er ihre dunklen Stimmen hören konnte. Wieso denke ich, dass sie nur so tun, als ob sie sich unterhalten?
Sonst war hier niemand zu sehen. Es dämmerte. Er zitterte. Längst hatte er alle Optionen überprüft. Durch diese hohle Gasse musste er hindurch. Er musste raus aus der Schweiz. Für einen Zeitraum länger als 48 Stunden galten besondere Bestimmungen. Man war dann illegal. Dann wäre ich erledigt.
Die Stimmen waren verstummt, die Blicke auf ihn gerichtet. Der kleinste von ihnen mit Lockenkopf machte eine Bemerkung zu den beiden anderen, die Frank nicht verstand, aber von den zweien grinsend quittiert wurde.
„Wohin des Wegs?“, fragte derjenige mit der schwarzen Lederjacke und der Stirnglatze. Er stieß ein Lächeln hervor, das Frank ein Schaudern über den Rücken laufen ließ. Obwohl er niemanden ansah, sah er alle und alles: der Typ mit dem Lockenkopf, der mit der Stirnglatze und dann derjenige mit einem Tunnel in beiden Ohrläppchen. Dann bemerkte er wieder das Mädchen.
Diesmal schaute sie nicht mehr an ihm vorbei. Nun war sie im Land der Erwachsenen angekommen, sei es nun in der Schweiz oder in Deutschland mit seinen über hundert Schweizen. Ich kenne diesen Blick. Zum ersten Mal habe ich ihn bei Menschen an einem Grab bemerkt, auch wenn ich das Grab ihrer Eltern jetzt noch nicht sehe. Sie haben sie verschont. Sie wollen noch ihren Spaß haben. Vielleicht wollen sie sie auch als Jungfrau verkaufen – dorthin, wo sie inzwischen das richtige Alter hat.
Kahr sah den Schatten in seinem linken Blickfeld kommen und seinen linken Arm hochschnellen. Die Stirnglatze hatte den Anfang gemacht, denn er hatte das Wort geführt. Nun rieb sich die Stirnglatze schmerzverzerrt die Hand: Kahr hatte seinen Arm mit Metallmanschette ausgekleidet. Während die Stirnglatze wimmernd in die Knie sank, schlug Kahr mit seiner Rechten dem Lockenkopf mit einem Aufwärtshaken so frontal ins Gesicht, dass der Kopf in den Rücken federte. Unsicher sah ihn der Typ mit den Tunneln in den Ohrläppchen an. Kahr machte einen entschlossenen Ausfallschritt in dessen Richtung, und der Typ lief ächzend davon.
Inzwischen hatte sich die Stirnglatze wieder gefangen. Das Messer sah Kahr zwar noch, konnte aber nicht mehr ausweichen. Im nächsten Sekundenbruchteil spürte Kahr einen eiskalten Streich über seiner linken Wange, dann fühlte er das Blut.
„Hier!“, hörte er eine Stimme, die er noch nie zuvor gehört hatte. Erst später begriff er, dass es das Mädchen war.
Kahr griff nach dem starken Ast, der ihm zugeworfen worden war, und schlug der Stirnglatze mit voller Wucht gegen die Schläfe. Der Lockenkopf war immer noch ohnmächtig. Zitternd trat Kahr auf das Mädchen zu und streckte ihm seine Hand entgegen. Zögernd nahm das Mädchen seine Hand.
„Bist du jetzt mein neuer Papa?“, fragte sie.
„Sieht so aus“, erwiderte Kahr leise, während er ein keimarmes Tuch auf die Wunde drückte. Also ist er tot, dachte er mit pochendem Herzen. Die Mutter auch. Noch einmal sah er die Eltern vor sich, dann nichts mehr.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie, als sie weitergingen.
„Wir müssen die Polizei suchen“, erklärte Kahr fest.
„Was tust du?“, fragte sie, als er an einer Abzweigung bei einer Gruppe von Kiefern anhielt und den Rucksack abnahm. Sorgfältig sah er sich um.
„Ich muss nur was vergraben“, antwortete er leise. „Dann geht`s weiter. Sicher.“
***
Wieder ist es zu einem brutalen Raubmord im binationalen Naturpark Schaffhausen gekommen. Eine Familie mit Tochter fiel einem Trio zum Opfer, das sich auf Raubüberfälle auf Wander*innen spezialisiert hatte. Zwei Polizei bekannte und mehrfach einschlägig Vorbestrafte konnten vorläufig festgenommen werden. Ein Verdächtiger befindet sich noch auf freiem Fuß. Nur dem beherzten Eingreifen eines deutschen Geschäftsmannes ist es zu verdanken, dass…
***
Lies eine Schweizer Zeitung, dachte Kahr. Bezahle bar. Lies zwischen den Zeilen und dann mach dich bald wieder auf den Weg, um das Geld auszugraben. Es wird nicht leichter werden. Mit der Narbe in der Fresse bist du jetzt nicht gerade unauffälliger. Doch die beiden Mädels, die da draußen auf der Terrasse miteinander spielen, brauchen das Zürcher Guthaben wirklich.
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