Zwischen gesellschaftlicher Pflicht, Gott und Individuum – Eine Rezension über das Drama Corpus Christi

Rezension von Maja Seiffermann

Die katholische Kirche in Polen verteidigte im Widerstandskampf gegen die kommunistische Herrschaft die Existenz des Landes, schenkte Hoffnung und diente als Zufluchtsort. Durch die damalige Unterteilung in die bösen Kommunisten und die guten katholischen Patrioten, genoss die Kirche stets die Assoziation mit Demokratie, Menschenrechten, Individualität und Zusammenhalt. So wurde – und ist – die Kirche in Polen eine politische Instanz, der größtenteils vertraut wird und sonst ungehörten Menschen Gehör schenkt.

Voltaires Prinzip, „Gewohnheit, Sitte und Brauch sind stärker als die Wahrheit“, gilt bis heute für viele Polen und ist Ursache (intergenerationaler) Konflikte.

Die ältere Bevölkerung geht regelmäßig in die Kirche und zur Beichte, engagiert sich für den örtlichen Priester und implementiert katholische Werte in die Kindererziehung. Die jüngere Generation boykottiert nicht zwingend alles mit der Kirche Zusammenhängende, aber strebt definitiv einen alternativen liberaleren Religionsumgang an.

Umso überraschender – oder vielleicht gar nicht einmal – erscheint dann 2019 das polnische Drama „Corpus Christi“ (polnisch: „Boze Cialo“), ein Film, der sich mit genau dieser Thematik kritisch (und das ist noch eine leichte Untertreibung) auseinandersetzt:

Daniel ist 20 und träumt davon, Priester zu werden. Was ihn davon abhält, sind die Tatsachen, dass er im Jugendgefängnis sitzt und keinen Abschluss hat. Der Gefängnispriester schickt ihn für seine Bewährung in ein Sägewerk an Polens anderem Ende. Auf dem Weg dorthin stiehlt er auf einer Party das Kollarhemd eines angehenden Priesters.

Am nächsten Morgen besucht er eine Kirche und fragt eine junge Frau namens Marta, wann die letzte Messe war. Sie unterstellt ihm im Laufe des Gespräches, wie ein ehemaliger Gefängnisinsasse auszusehen und im Sägewerk zu arbeiten. Daniel schämt sich und behauptet, er sei Priester. Zum Beweis holt er das geklaute Kollarhemd heraus. Prompt wird er dem echten Priester als pilgernder Priester vorgestellt. Kurz darauf muss der richtige Priester ins Krankenhaus und Daniel soll ihn vertreten. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch stimmt Daniel zu, den Priester nur ein paar Tage zu vertreten. Daniel übernimmt also die Messen und Beichten und versucht sich unter die Dorfleute zu mischen.

In dem Dorf starben sieben junge Menschen bei einem Autounfall. Die Angehörigen sind verwirrt von „Gottes Entscheidung“, voller Frust und fühlen sich alleingelassen. Daniel betet mit den Angehörigen, spricht aus, was alle denken und hilft ihnen ein wenig bei der Trauerüberwindung.

Nachdem Daniel sich schon viel länger als abgesprochen als Priester Tomasz ausgegeben hat, wird er vom Bürgermeister gebeten, im Sägewerk einen neuen Flügel zu segnen. Dort sieht er einen ehemaligen Mitinsassen, der im Anschluss bei der Beichte Daniels Geschichte beichtet und droht, ihn zu verraten.

Daniels Lüge fliegt schließlich auf, als der Gefängnispriester ihn auf seinem Weg zur Inspektion im Sägewerk in Soutane sieht. Er muss danach wieder ins Gefängnis.

Vielen Polen fällt es, wie in diesem Film dargestellt, schwer, sich von alten Mustern und Gewohnheiten zu trennen. Die Kirche ist ihr Zufluchtsort, ihr Etwas, bei dem sie wissen, sie können nichts falsch machen. Kommen sie jedoch in eine Situation, in der sie nicht mehr allein auf Gottes Güte vertrauen können oder wenn sich z.B. der Priester ändert, sind sie überfordert. Diese Überforderung stellt der Film sehr gut dar; Am Anfang weiß nämlich weder Daniel noch die Dorfbevölkerung, was sie tun soll. Daniel predigt also das, was er vom Gefängnispriester schon kennt. Er entscheidet sich für das, woran er selbst glaubt anstatt für mechanisches Beten, wie es die Dorfbevölkerung kennt.

Und so beginnt nicht nur Daniels Reise, sondern auch die des Dorfes und die aller Zuschauer*innen. Denn der Film stellt viele Fragen, über die man noch lange grübeln kann.

Mit dem Gedanken an eine Reise hat folglich auch der Regisseur, Jan Komasa, Bartosz Bielenia, den Schauspieler von Daniel ausgewählt; Er hat den Schauspieler, der vorher für Schurken- und Psychopathenrollen bekannt war, eigener Angaben zufolge nicht der perfekten Voraussetzungen und der hervorragenden Improvisationsleistung beim Casting wegen ausgewählt. Nein, er hat sich für ihn entschieden, weil er Potenzial gesehen hat und wusste, dass Bartosz, genau wie Daniel, erst nach einem Prozess zu dem wird, was er ist.

Interessant ist, dass der Film auf wahren Begebenheiten beruht. Anscheinend ist es nämlich in Polen nicht unüblich, dass Menschen sich als Priester ausgeben. Drehbuchautor Mateusz Pacewicz fand dieses Phänomen so spannend, dass er jahrelange Recherche in das Thema steckte und schließlich einen Roman und im Anschluss das Drehbuch schrieb. Ihm war es jedoch wichtig, keine Dokumentation zu produzieren, sondern einen Plottwist einzubauen und gesellschaftskritisch an die Thematik heranzugehen.

Man soll aber nicht meinen, der Film sei nur gut angekommen und habe sich die Oscarpreisnominierung 2020 umsonst verdient; für den Dreh in der Kirche und im Ort bekam die Crew keine Genehmigung. Der Bischof der Region teilte in einem Brief mit, er halte das Filmskript für antichristlich und antikatholisch und sehe in Daniels Rolle eine Herabsetzung der Priesterrolle, weil sie impliziert, jeder könne Priester werden. Daher mussten die Dreharbeiten teilweise nach Tschechien oder in die Slowakei verlegt werden, was die Produktion erheblich erschwerte. Zudem gab es auch Menschen, die sich durch den Film angegriffen fühlten, wobei das nie die Intention des Filmes war, sagen die Produzenten.

Der Drehbuchautor Pacewicz selbst sagt, die Intention des Filmes sei, das Spannungsverhältnis der Polen und ihrer Religion darzustellen, das Suchen nach Antworten über die richtige Art Religion auszuleben sowie die soziale Rolle gegen das Individuum auszuspielen.

Und genau das ist auch gelungen.

Wichtig für die Umsetzung dieser Ansprüche ist ein starker Protagonist, der Daniel definitiv ist. Angefangen mit einem markanten Aussehen; Daniel hat abrasierte helle Haare, eindringliche ruhige blaue Augen, er ist groß und dünn. Auf seinem Körper hat er Narben und Tattoos mit religiösem Hintergrund. Man weiß so gut wie nichts über sein Leben, über seine Familie und erfährt erst sehr spät, warum er im Gefängnis saß. Bis dahin ist es aber so irrelevant geworden, da die Sympathie und seine guten Taten überwiegen und man mit ihm reist. Daniel verfügt über ein unglaubliches Maß an Empathie, zeigt selbst immer mehr Gefühle und inspiriert andere dazu, sich auch vor Gott nicht für Gefühle zu schämen. Ohne sein Improvisationstalent wäre seine Lüge viel früher aufgeflogen. Es werden zu Beginn Fachbegriffe aus dem Priesteralltag verwendet, die man als Laie nicht kennt, genauso wie Daniel, der dann aus seiner Hilflosigkeit heraus lügen oder improvisieren muss. Als er aber merkt, dass er einfach das tun muss, was sich für ihn richtig anfühlt, kommt er gut bei den Menschen an. Durch sein neues Priesterdasein erfährt er eine Macht, die er bis dahin nicht kannte, nutzt diese allerdings ausschließlich für gute Zwecke wie z.B. dem Bürgermeister zu zeigen, dass jeder seinem eigenen Gewissen unterworfen ist und nicht z.B. den Befehlen des Bürgermeisters. Darüber hinaus ist Daniel mit Marta zusammen der einzige, der tiefer forschen will in der Sache mit dem Autounfall. Er findet die Wahrheit heraus, die aber mehreren u.a. den Toten schaden würde und behält sie daher für sich, um sie und ihre Angehörigen zu schützen.

Daher ergibt es auch nur Sinn, dass Hauptdarsteller Bartosz Bielenia findet, in dem Film gehe es um die Frage, ob es möglich sei, die eigene Identität basierend auf einer Lüge zurückzufordern beziehungsweise sich selbst zu rekreieren. Ob und inwiefern das nun möglich ist, muss jeder (nach diesem Film) selbst entscheiden.

Corpus Christi überzeugt aber nicht nur inhaltlich, sondern auch durch die Verknüpfung von visuellen Mitteln mit der Handlung, um die Stimmung über den Bildschirm transportieren zu können. Man hat das Gefühl, es liege ein Filter über dem Bild, der alles trist und grau macht. Die Personen sind nicht übermäßig hergerichtet, sondern leben ihr armes polnisches Leben. Bei der Beichte beispielsweise wird so nah an die Gesichter der Personen gezoomt, dass sie das ganze Bild ausfüllen und man sich ihnen automatisch nahe fühlt. Die Stimmung ist von Streit, Gewalt und einer omnipräsenten Schwere geprägt, die nur ganz kurz gegen Ende nachlässt, als Daniel glücklich ist. Sex- und Gewaltszenen sowie Drogenkonsum werden sehr offen und authentisch präsentiert, was den ganzen Film auf positive Art anstrengender macht.

Interessant ist außerdem, dass der Film fast so endet wie er anfängt. Der Kreis schließt sich scheinbar und doch tut er es nicht. Denn wie am Anfang, weiß nicht einmal Daniel selbst, was als nächstes kommt.

Den Film empfehle ich Menschen, die etwas mit Polen zutun haben. Besonders empfehlenswert ist es, den Film in der Originalsprache zu schauen, denn in der deutschen Fassung geht leider vieles an Wörtern und insbesondere auch charaktergebenden Flüchen verschwunden. Allen, die sich dafür interessieren, was passiert, wenn man sich selbst verliert und in den falschen Ecken sucht oder denjenigen, die sich für Religionskritik interessieren.

Und so passiert es, dass genauso wie die Kirche eigentlich unpolitisch ist, auch dieser Film politisch geworden ist, ohne aufdringlich politisch sein zu wollen und dabei nicht einmal die metaphysische Bedeutungsebene degradiert.

Wir können nur auf das Beste hoffen, für Daniel, für die Dorfbewohner, für alle Polen, für uns. Wir können Gutes tun und respektvoll miteinander umgehen, so wie Daniel es uns gezeigt hat.

Denn so wie der Priester im Film gesagt hat, ist es auch: Man muss nicht Priester sein, um Gutes zu tun.

 

Interview mit Jan Komasa und Mateusz Pacewicz: https://www.youtube.com/watch?v=4pzvNClRgeM

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